Gebäude der ehemaligen Großherzoglich-Sächsischen

Kunstgewerbeschule in Weimar, Architekt:

Henry van de Velde, 1905/06 (UNESCO-Welterbe)

 

 

Zwischen Vision und Realität:
Die Aufbauphase von 1919 bis 1920

 

Nachdem der belgische Künstler Henry van de Velde am 25. Juli 1914, wenige Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, dem Weimarer Großherzog sein Entlassungsgesuch als Direktor der Großherzoglichen Kunstgewerbeschule unterbreitet hatte, wurde sein Vertrag bis zum 1. Oktober 1915 befristet und die Schule zu diesem Termin geschlossen. Van de Velde empfahl dem Großherzoglich Sächsischen Staatsministerium für seine Nachfolge die deutschen Architekten August Endell (1871 bis 1925) und Walter Gropius sowie den Schweizer Bildhauer Hermann Obrist (1863 bis 1927). Seit Oktober 1915 entwickelte sich ein reger Briefwechsel zwischen dem Maler und Direktor der Großherzoglich Sächsischen Hochschule für bildende Kunst in Weimar, Fritz Mackensen (1866 bis 1953), und Walter Gropius über eine anzugliedernde Abteilung Architektur und angewandte Kunst, zu deren Leiter Gropius berufen werden sollte, der im Dezember zu einer persönlichen Aussprache in Weimar weilte und beim Großherzog eine Audienz erhielt. Am 25. Januar 1916 übersandte Walter Gropius auf Anforderung des Weimarer Staatsministeriums seine Vorschläge zur Gründung einer Lehranstalt als künstlerische Beratungsstelle für Industrie, Gewerbe und Handwerk[1]. Ein Jahr später machte das Professorenkollegium der Kunsthochschule eine Eingabe an das Staatsministerium mit Reformvorschlägen, insbesondere zur Ergänzung des Lehrprogramms in Richtung Architektur, Kunstgewerbe und Theaterkunst.

Am 3. November 1918 begann die Revolution in Deutschland, die am 8. November auch Weimar erreichte. Am 9. November rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann (1865 bis 1939) am Reichstag die „Deutsche Republik“ aus, zwei Stunden später Karl Liebknecht am Berliner Schloss eine „Freie Sozialistische Republik“. Der Kaiser und alle deutschen Fürsten dankten ab, ohne dass weit gehende gesellschaftliche Umwälzungen erfolgten.

Am 3. Dezember 1918 fand die erste Sitzung der Novembergruppe in Berlin statt. Dies war eine Vereinigung von Künstlern und Architekten wie Lyonel Feininger (1871 bis 1956), Wassily Kandins-ky, Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, aber auch Max Pechstein (1881 bis 1955), Otto Dix (1891 bis 1969), George Grosz (1893 bis 1959) oder Hans Poelzig (1869 bis 1936), die ihren Beitrag zum Aufbau der jungen Republik leisten wollten. Parallel dazu formierte sich der Arbeitsrat für Kunst, unter anderem mit einer Arbeitsgruppe zur Reformierung des Bildungswesens unter Leitung des Architekten Otto Bartning (1883 bis 1959), an der auch Gropius mitarbeitete. Eine zentrale Frage war die Herstellung der Chancengleichheit für alle Kinder durch eine Einheitsschule in Verbindung mit der Idee der Arbeitsschule. Besonderes Augenmerk wurde auf die Reformierung der Kunstschulen gelegt. In nur leicht abgewandelter Form fanden die Diskussionsergebnisse ihren Niederschlag im Programm und Manifest des Bauhauses von Walter Gropius, das mit dem Titelholzschnitt von Lyonel Feininger im April 1919 erschien. Die Wiedervereinigung aller künstlerischen Disziplinen am Bau in Verbindung mit Handwerk und Werkstatt als Ausbildungsbasis standen im Mittelpunkt der Programmatik. Die Meister, Gesellen und Lehrlinge des Bauhauses sollten eng mit der Industrie und dem öffentlichen Leben „Fühlung nehmen“ und freundschaftlichen Verkehr untereinander außerhalb der Arbeit mit Theater, Vorträgen, Musik und „… heiterem Zeremoniell bei diesen Zusammenkünften“ aufbauen.[2]

Ein besonderes Symbol für diesen Aufbruch war das erste Bauhaussignet „Sternenmännchen“, mit dem der Student Karl Peter Röhl (1890 bis 1975) den studentischen Wettbewerb gewonnen hatte. Im Mittelpunkt steht der strichförmig abstrahierte Mensch mit nach oben gestreckten Armen in bewusster Anlehnung an Leonardo da Vincis (1452 bis 1519) Idealmenschen im Kreis und Quadrat, zugleich aber auch als altgermanische Doppelrune „Mann-Frau“ mit einem kreisförmigen Kopf, der mit seiner schwarzen und weißen Hälfte die höchste Abstraktionsstufe des chinesischen Yin und Yang darstellt. Dieser Bauhaus-Mensch trägt über sich eine Pyramide als das antike Symbol für die Einheit von Gesellschaft, Kunst und Religion. Er wird von der Sonne als Swastika, dem buddhistischem Glückssymbol, Mond und Stern umkreist. Weltkulturen und Weltreligionen bildeten den humanistischen Hintergrund für die Zukunftsvisionen des Bauhauses.

Die Gründung des Bauhauses fällt mit den ersten Wahlen des neu gegründeten Freistaates Sachsen-Weimar-Eisenach am 9. März 1919 und der Bildung einer republikanischen provisorischen Regierung aus Sozialdemokraten (SPD) und Deutschen Demokraten (DDP) zusammen. Im Februar und März reiste Gropius mehrfach zu Verhandlungen nach Weimar und erreichte bei den Kunstschulprofessoren die Unterstützung zu seiner Berufung als Direktor und für den neuen Namen Staatliches Bauhaus in Weimar. Am 1. April 1919 unterzeichnete noch das Weimarer Hofmarschallamt den Vertrag mit Gropius und stimmte am 12. April auch der Umbenennung zu.

Als Zusammenschluss der ehemaligen Kunsthochschule und Kunstgewerbeschule in Weimar musste Gropius die verbliebenen Professoren der Kunsthochschule Richard Engelmann (1868 bis 1957), Otto Fröhlich, Walther Klemm (1883 bis 1957) und Max Thedy (1858 bis 1924) in das Bauhaus übernehmen. Die Berufung des neuen, internationalen Lehrkörpers mit Avantgardekünstlern dauerte vier Jahre: im Jahr 1919 kamen Lyonel Feininger, Gerhard Marcks (1889 bis 1981) und Johannes Itten (1888 bis 1967). Ein Jahr danach Georg Muche (1895 bis 1987), dann 1921 Paul Klee (1879 bis 1940), Oskar Schlemmer (1888 bis 1943) und Lothar Schreyer (1886 bis 1966), Wassily Kandinsky 1922 und im Wechsel mit Itten erst 1923 László Moholy-Nagy.

Bereits im Herbst 1919 formierten sich die Bauhausgegner in Weimar, konservative Handwerkerschaft, akademische Künstler, rechtskonservatives Bildungsbürgertum und Politiker in der Freien Vereinigung für städtische Interessen und polemisierten in Bürgerversammlungen öffentlich gegen den „… spartakistisch-bolschewistischen Einfluss“ am Bauhaus. Der Meisterschüler am Bauhaus, Hans Groß, beklagte auf einer solchen Veranstaltung das Fehlen einer deutsch-national gesinnten Führerpersönlichkeit am Bauhaus. Der „Fall Groß“ führte zum Austritt von mehr als einem Dutzend Studierender, zu einer Beschwerde gegen das Bauhaus von 49 rechtskonservativen Weimarer Bürgern und Künstlern bei der Landesregierung, aber auch zur ersten Mobilisierung der Bauhaus-Befürworter aus dem Deutschen Werkbund und dem Berliner Arbeitsrat für Kunst. Der Kampfschrift gegen das Bauhaus von Emil Erfurth, dem Vorstand des völkisch-nationalen Bürgerausschusses, setzte Walter Gropius im Frühjahr 1920 mit Unterstützung des Kultusministeriums eine eigene Broschüre entgegen.

Am 30. April 1920 schlossen sich die acht bisherigen thüringischen Freistaaten zum Land Thüringen mit Weimar als Hauptstadt zusammen. Am 20. Juni fanden die ersten Landtagswahlen statt, aus denen eine Regierungskoalition aus SPD, USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei) und DDP unter August Fröhlich hervorging. Das Bauhaus wurde dem Ministerium für Volksbildung, Kultus und Justiz unterstellt. Am 9. Juli hielt Gropius eine Ansprache vor dem Thüringischen Landtag und nahm als Sachverständiger an der Haushaltsberatung teil. Er nutzte die Gelegenheit, die Entwicklung der Kunsthochschulen bis zum Bauhaus vorzustellen, politische Angriffe zurückzuweisen und für die Erweiterung des völlig unzureichenden Bauhaus-Etats zu werben.

Die Professoren der ehemaligen Weimarer Kunsthochschule Thedy und Fröhlich betrieben seit Anfang 1920 die Sezession der Malereiklassen vom Bauhaus, der sich im Oktober auch Engelmann und Klemm anschlossen. Sie erreichten die Neugründung einer akademisch orientierten Staatlichen Hochschule für bildende Kunst in Weimar am 4. April 1921, die direkt neben dem Bauhaus in den Räumen der ehemaligen Kunsthochschule etabliert wurde.

Diese Sezession ermöglichte die überfälligen Neuberufungen des Jahres 1921 am Bauhaus und zugleich dessen Profilierung. Nachdem die Druckerei, Buchbinderei, Bildhauerei und Weberei schon 1919 ihren Lehrbetrieb aufnehmen konnten, folgten 1920 Tischlerei, Töpferei, Metallwerkstatt und Glasmalereiwerkstatt. Im Januar 1921 erschienen die ersten Satzungen des Staatlichen Bauhauses zu Weimar, die nach einer Überarbeitung bis 1925 gültig blieben.

Johannes Itten hatte im Februar seine kuttenartige, aber nicht offiziell eingeführte Bauhaustracht entworfen. Im Sommer besuchte er den Mazdaznan-Kongress in Leipzig und führte zusammen mit Georg Muche diese Lehre am Bauhaus ein, unter anderem mit vegetarischem Essen in der Bauhaus-Kantine. Neben dieser amerikanischen Sekte, die sich auf die altpersische Lehre Zarathustras berief, spielten die verschiedenen Lebensreformbewegungen, der Wandervogel, aber auch sozialistische Ideen und christliche Wanderprediger am frühen Bauhaus eine Rolle und versuchten, das von Krieg und Revolution verursachte Wertevakuum zu füllen.

Diese geistige und praktische Aufbau- und Formierungsphase wird oft auch als die expressionistische Phase des Bauhauses bezeichnet. In dieses „expressionistische“ Bild fügte sich scheinbar auch die wohl bedeutendste Grafikedition ein, die fünf Mappen Bauhaus-Drucke. Neue Europäische Grafik mit 56 Werken von 49 beteiligten Künstlern aus sechs Ländern sowie von allen Bauhaus-Meistern. In Wirklichkeit spiegelt sie das pluralistische Bild der europäischen Avantgarde vom deutschen Expressionismus und italienischen Futurismus über den russischen Konstruktivismus bis hin zum holländischem De Stijl.