George Marinko, Sentimentale Aspekte des Pechs, um 1937.

 

 

DADA – DIE WIEGE DES SURREALISMUS

 

Dada – das war eigentlich der Name einer Zeitschrift. Aber Dada war viel mehr als nur eine Zeitschrift: Dada war eine Vereinigung gleich gesinnter Menschen, eine Bewegung, die auch die internationale künstlerische Avantgarde mit einschloss. Dada war der gleichzeitig in verschiedenen Ländern der Welt stattfindende Ausbruch emotionaler Reaktionen und Tendenzen. Dada war eine Auflehnung gegen die traditionelle Kunst und die Dadaisten.waren die Verfechter der Antikunst. Dada war die Wiege des Surrealismus, in der er seine ersten Worte sprach, seine ersten Bewegungen machte und sehr schnell wuchs und gedieh. Die Dada-Bewegung war das erste Kapitel des Surrealismus.

Obwohl Dada auch in Amerika zeitgleich viele Anhänger fand, wird Zürich meist als die Geburtsstätte von Dada betrachtet. In Europa weitete sich die Dada-Bewegung allmählich in verschiedene Ländern aus. Die kleine Schweiz war offiziell das einzige neutrale europäische Land, die einzige Insel des Friedens, umgeben von den Gefechtsfeuern des Weltkrieges. Und genau hier fanden diese jungen Menschen, die sich nicht am europäischen Krieg beteiligen wollten, eine Zuflucht. Unter diesen vom Winde des Weltkriegs nach Zürich Verwehten waren auch die Deutschen Richard Huelsenbeck und Hugo Ball, die Rumänen Tristan Tzara und Marcel Janko, der Elsässer Hans Arp sowie viele andere. Einige Schweizer Intellektuelle schlossen sich dieser Gruppe ebenfalls an. Das stärkste sie vereinigende Band war ihre Abneigung gegen die bestehende gesellschaftliche Ordnung, deren Folge in ihren Augen das sinnlose Blutvergießen des Krieges war. Es befanden sich zwar Pazifisten jeglicher Couleur unter ihnen, sie organisierten aber keine Anti-Kriegs-Demonstrationen und nahmen auch nicht aktiv an politischen Bewegungen teil. Der Protest dieser überwiegend aus bürgerlichen Familien stammenden Künstler nahm besondere Formen an und richtete sich in erster Linie gegen die offizielle Kunst. Er bezog sich ausschließlich auf den Bereich der Literatur, des Theaters und der visuellen Künste.

Im Frühjahr 1915 ließen sich die Rumänen Tzara und Janko in Zürich nieder. Der Deutsche Hugo Ball eröffnete 1916 in einer der kleinen Gassen der Züricher Altstadt das Cabaret Voltaire. Er schilderte später, wie es dazu kam, dass der Restaurantbesitzer Jan Efraim ihm für das Kabarett in der Spiegelgasse einen Saal zur Verfügung stellte, und Hans Arp seinen Freunden Bilder von Picasso höchstpersönlich für die Ausstellungen anbot. Janko, Tzara und der Schweizer Max Oppenheimer waren bereit, im Cabaret Voltaire aufzutreten, und am 5. Februar fand dort das erste Konzert statt. „Madame Hennings und Madame Leconte sangen französische und dänische Lieder, Monsieur Tzara las rumänische Gedichte und ein Balaleika-Orchester spielte fröhliche russische Tänze und Volkslieder“, schrieb Ball in seinen Memoiren.[18]

Der Name Dada wurde am 8. Februar geprägt, als Tristan Tzara, die Leitfigur dieser neuen Bewegung, dieses Wort angeblich auf der Seite eines französischen Wörterbuches las, weil ein Brieföffner rein zufällig darauf zeigte. „Dada bedeutet nichts“, schrieb Tzara im Dada-Manifest 1918“. „Wie wir den Zeitungen entnehmen können, bezeichnet das westafrikanische Volk der Kru den Schwanz einer heiligen Kuh mit: DADA . In einer bestimmten Gegend Italiens sagt man zu Würfel und Mutter: DADA. Das Holzpferd, die Amme, die Doppelaffirmation ist im Russischen und Rumänischen: DADA.“[19]

Tzara, der gleichzeitig erklärte, dass er gegen jede Art von Manifest sei, schrieb weiter: „Und so entstand der Begriff Dada aus ihrem Misstrauen und aus dem Bedürfnis der Gemeinschaft nach Unabhängigkeit. Alle, die zu uns gehören, behalten ihre Freiheit. Wir erkennen keine Theorie an. Es gibt genug Kubisten und Futuristen: Werkstätten konventioneller Ideen. Wird Kunst etwa geschaffen, um Geld zu verdienen und dem netten Bourgeois um den Bart zu streichen?“[20]

Der Dada-Bewegung lag der Ehrgeiz zu Grunde, die alte Kunst ausnahmslos mit der Begründung zu vernichten, sie sei nicht frei und hätte sich nur durch die gesellschaftliche Ordnung etabliert, welche die Dadaisten zutiefst verachteten. Dada war die Negierung von Allem: „Jegliche Form von Hierarchie und sozialem Gleichgewicht, die von unseren Dienern als unser Wertesystem aufgestellt wurde: Dada; […] Abschaffung der Erinnerung: Dada; Abschaffung der Archäologie: Dada; Abschaffung von Propheten: Dada; Abschaffung der Zukunft: Dada […]“ schrieb Tzara.[21]

Seine Auffassung von Freiheit reichte sogar bis zur völligen Befreiung von der Logik: „Logik ist ein Hindernis. Logik ist irreführend. Sie beraubt Worte und Gedanken ihrer ursprünglichen Schärfe und zerrt sie weg von ihrer eigentlichen Aussagekraft hin zu Akzenten und Absichten, die trügerisch sind. Ihre Ketten sind tödlich und ersticken jede Form von Unabhängigkeit.“[22]

Im Cabaret Voltaire war immer etwas los. Anfangs waren seine Veranstalter zufrieden, Gedichte und musikalische Werke aufführen zu können, die hinsichtlich der konventionellen Geschmacksrichtungen relativ unbedenklich waren. Sie lasen Gedichte von Kandinsky und Blaise Cendrars und führten Liszts Rhapsodie Nr. 13 auf. Dann veranstaltete man russische und französische Abende. Am 14. März las Tzara bei einem solchen französischen Abend Gedichte von Max Jacob, André Salmon und Laforgue vor, während Arp Auszüge von Alfred Jarrys Ubu roi vortrug.

An den Abenden wurden Lieder von Aristide Briand gesungen und gleichzeitig eigene individuelle Werke vorgeführt, womit Dadas nihilistische Haltung in Relation zu allen Kunstformen der Vergangenheit, selbst der jüngsten, demonstriert werden sollte. Die Vorstellung von zentralen Werten der bourgeoisen Ästhetik stieß bei ihnen auf entschiedene Ablehnung. Hugo Ball schrieb am 11. Februar in sein Tagebuch: „Huelsenbeck kommt dazu und plädiert dafür, die afrikanischen Rhythmen noch zu verstärken. Hätten wir ihn gelassen, hätte er die gesamte Literatur durch einen Trommelwirbel ersetzt.“[23]

Am 29. März lasen Huelsenbeck, Janko und Tzara, begleitet von afrikanischen Gesängen, das Simultangedicht von Tristan Tzara Der Admiral sucht nach einem zu vermietenden Haus.

In diesen Werken wird das Prinzip der Antikunst zum Ausdruck gebracht. „Es handelt sich um ein kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehr Stimmen gleichzeitig flüstern, singen, sprechen oder etwas Ähnliches tun, allerdings so, dass der Inhalt dessen, was jeder für seinen „Teil“ in diesem Durcheinander vorträgt, melancholisch, fröhlich und sonderbar zugleich wirkt“, schrieb Hugo Ball über Tzaras Gedichte. „In diesen Simultangedichten wird die Eigensinnigkeit der Stimme und ihre Abhängigkeit von den jeweiligen Begleitumständen veranschaulicht. […] Seinen Ursprung hat das ‚Simultangedicht’ in der Qualität und Betonung der Stimme. […] Es signalisiert […] die Kollision der ‚Vox Humana’ mit der bedrohlichen und zerstörerischen Welt, deren Lärm und Rhythmus sie sich nicht entziehen kann.“[24]

Die Dadaisten veröffentlichten 1920 schließlich eines ihrer Manifeste, das genaue Anweisungen enthielt, „… wie man ein Dada-istisches Gedicht verfasst“:

Nehmt eine Zeitung.

Nehmt eine Schere.

Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus,

die Ihr Eurem Gedicht geben wollt.

Schneidet den Artikel aus.

Schneidet dann sorgfältig jedes einzelne Wort dieses Artikels aus,

steckt sie alle in eine Tüte

und schüttelt vorsichtig.

Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus.

Schreibt sie gewissenhaft ab,

in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind.

Das Gedicht wird Euch ähnlich sein.

Und schon seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten,

wenn auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität.[25]