Giorgio de Chirico, Hektor und Andromache, 1917.

 

 

DER KRIEG – DER STIMULUS FÜR DADA

 

Die Kunst des Surrealismus war das unmittelbare Produkt jener Zeit, und diejenigen Künstler und Literaten, die sie schufen, gehörten einer im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts geborenen Generation an. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war jeder von ihnen so um die zwanzig Jahre alt. Nach den ungeheuren Verbrechen des Zweiten Weltkrieges, der Vernichtung von Millionen von Menschen in Konzentrationslagern und der Zerstörung japanischer Städte durch die Atombombe verblassten die vorherigen Kriege zu weit entfernten, historischen Ereignissen. Es ist danach schwer vorstellbar, welches Desaster, ja, welche Tragödie bereits der Erste Weltkrieg für die Menschen bedeutete. Die ersten Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts waren gezeichnet von Konfliktausbrüchen in den verschiedensten Teilen der Welt, was den Menschen das Gefühl vermittelte, auf einem Vulkan zu leben.

Dennoch kam der Kriegsausbruch für sie überraschend. Am 28. Juni 1914 ermordete der Student Gavrilo Princip in der serbischen Stadt Sarajevo den österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau. Auf dem Balkan brach ein Krieg aus, und danach überschlugen sich die Ereignisse: Da ein Serbien gestelltes Ultimatum nicht akzeptiert wurde, erklärte Österreich Serbien den Krieg. Am 30. Juli befahl Russland die Generalmobilmachung zur Unterstützung Serbiens. Deutschland war Bündnispartner Österreichs und erklärte am 1. August Russland den Krieg. Am 3. und 4. August erklärten die Entente-Mächte Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg.

Nur der Sieg über die Deutschen in der Schlacht an der Marne vom 5. bis 12. September 1914 bewahrte Paris vor der Zerstörung. Gleichzeitig begann damit jedoch auch ein sich zum Albtraum entwickelnder langwieriger Stellungskrieg. Zehntausende junger Männer aus allen Ländern, die in den Krieg gezogen waren, kehrten niemals nach Hause zurück und wurden statt dessen Opfer von Granatsplittern, starben in den Schützengräben an Krankheiten oder wurden von dem von den Deutschen in diesem Krieg erstmals 1916 eingesetzten Gas vergiftet. Viele kehrten als Kriegsinvaliden zurück und starben später an den Folgen ihrer Verletzungen. Und genau diese Generation schuf schließlich die Kunst des Zwanzigsten Jahrhunderts und setzte die mutigen Anfänge ihrer Vorgänger fort.

Vor dem Krieg erfreute sich das künstlerische Leben von Paris einer schier vollkommenen und überwältigenden Freiheit. Die Impressionisten und die Meister des Post-Impressionismus entfesselten die Hände der Künstler. Das durch Schulen oder Tradition vermittelte Gefühl der Grenzen der Kunst verschwand völlig. Junge Künstler konnten sich alles Mögliche und Unmögliche erlauben. Die Kühnheit der Generation des späten Neunzehnten Jahrhunderts veranlasste sie, Farben und Formen genau zu studieren. Der junge Maler und Kunsttheoretiker Maurice Denis fasste erstmals 1890 in Worte, was diese Künstler gerade von den Werken ihrer Vorgänger zu verstehen begannen: „Bevor ein Gemälde zum Schlachtross, weiblichen Akt oder einer sonstigen Art von Darstellung wird, ist es im Grunde nur eine glatte Fläche, die mit systematisch aufgetragenen Farben bedeckt ist.“[8]

Das Wichtigste bei der Malerei waren die Farben, und deshalb benötigte man eine spezielle Form der Untersuchung. Bereits in den 1880ern wandten sich Seurat und Signac mit dem Ziel an Chemiker und Physiker, eine Wissenschaft der Farben zu begründen, die sie für eigene Zwecke verwenden konnten. Die Struktur der auf die Leinwand aufgetragenen Farbe beeinflusst ihre Kraft. Die nervöse Expressivität der farbenreichen Striche in van Goghs Bildern faszinierte junge Künstler auf den nach dessen Tod stattfindenden Ausstellungen.

Bereits 1884 wurde der Salon des Independants in Paris gegründet, wo jeder, der Interesse hatte, seine Werke ausstellen konnte, ohne sich vorab der üblichen akademischen Beurteilung unterziehen zu müssen. Die Künstler, die offiziell nie an dem zuvor gegründeten Salon teilgenommen hatten, gründeten 1903 ihren eigenen Salon dAutomne, in dem Matisse und seine Gruppe dann 1905 den Namen Fauves (die Wilden) erhielten, weil die Gewalt ihrer Farben Assoziationen von Raubtieren und wilden Kreaturen im Urwald weckte. Dem Schriftsteller Guillaume Apollinaire, der ein großer Bewunderer von Matisse’ Kunststil war, gelang es 1907, ein Interview mit ihm zu führen. In seinem Artikel zitierte er die Worte des Künstlers: „Ich habe Farben und eine Leinwand und ich muss mich klar, ja fast schon einfach, ausdrücken, indem ich drei bis vier Farbpunkte oder drei bis vier starke Linien zeichne“.[9]

In der Cézanne-Ausstellung im Oktober 1906, unmittelbar nach dem Tod des Künstlers, richteten sich die Augen aller jungen Künstler auf die Form eines Gegenstandes. In den Werken der in großen Mengen nach Europa gelangten „primitiven“ Kunst, den Figurinen afrikanischer und ozeanischer Meister, entdeckten sie abstrakte Formen. Das eindrucksvollste Ergebnis dieser Offenbarungen war Picassos Kubismus, der 1907 seinen Freunden sein erstes kubistisches Bild zeigte: die Demoiselles dAvignon.

Ähnliche Annäherungsprozesse an diese neue Expressivität der Farben und Formen vollzogen sich in jenen Jahren auch in anderen europäischen Ländern. In Dresden wurde 1905 die Brücke gegründet, die mit den Parisern im Bereich der Farben wetteiferte. Anschließend stritten sich deutsche Künstler mit den Franzosen darüber, wer als Erster die „primitive“ Kunst entdeckt habe. Das Futuristische Manifest wurde 1909 zunächst in Mailand und dann in Paris veröffentlicht. Sein Autor, Filippo Tommaso Marinetti, schrieb: „Was unsere Dichtkunst ausmacht, sind Mut, Verwegenheit und Auflehnung.“ Die Futuristen waren die Ersten, die sich gegen überholte Grundsätze und Gepflogenheiten in Kunst und Kultur zur Wehr setzten.

„Nieder mit Museen und Bibliotheken!“ schrieb Marinetti. „Wir erstellen dieses glühende Manifest zur Proklamation der Begründung des Futurismus, denn wir wollen dieses Land von dem bösartigen Tumor in seinem Inneren befreien – von Professoren, Archäologen, Ciceronen und Antiquaren. […] Eilt zu uns! Brennt Bibliotheken nieder! Staut die Kanäle auf und versenkt die Museen! Ha! Lasst die Strömung die berühmten Gemälde wegschwemmen. Greift euch die Spitzhacken und Hämmer! Zerstört die Mauern der ehrwürdigen Städte!“[10]

Die Form wurde eingesetzt, um die Geschwindigkeit dieser Bewegung und die Dynamik der neuen industriellen Welt widerzuspiegeln. In Russland bemühte sich der Künstler Kazimir Malewitsch, die Kunst den Fesseln der Literatur zu entreißen und sie zu befreien „… von allen Inhalten, die sie seit Tausenden von Jahren gefangen halten.“[11]

Malerei und Bildhauerkunst wurden von literarischen Elementen befreit, nur das Motiv blieb, um eine Angleichung von Form, Farbe und Bewegung anzuregen. Zur Veröffentlichung des gleichnamigen Almanachs schloss sich in München unter der Bezeichnung Der Blaue Reiter“ eine Gruppe von Künstlern zusammen, darunter auch der Russe Wassily Kandinsky. In ihren Bildern zeigte sich die gesamte Fülle der Farben, wie sie sich der europäischen Avantgarde gerade erst offenbarte. Kandinsky malte 1910 sein erstes Aquarell, in dem nichts anderes als ein Fleck aus Farben und Linien zu sehen war. Die natürliche Konsequenz einer so rasanten künstlerischen Entwicklung war die Entstehung abstrakter Gemälde. Mit bourgeoiser Ästhetik ging die künstlerische Avantgarde recht schonungslos um.

Aber nicht weniger wichtig war die Tatsache, dass die neue Kunst international wurde. Paris zog Umstürzler aus aller Welt an, all jene, die in der Lage waren, Alternativen zum gewohnten, eingefahrenen Weg zu finden. In Montmartre und später im Viertel des Boulevard Montparnasse entstand plötzlich eine ganz besondere Welt der Kunst. Etwa um 1900 „… beherbergte ein ungemütliches Holzhaus in Montmartre, das Bateau-Lavoir, Maler, Bildhauer, Schauspieler, Schriftsteller, Humoristen, Schneider, Wäscherinnen und Straßenhändler.“[12]

Der Holländer Kees van Dongen zog ebenfalls dort ein, „… barfuß in Sandalen, mit seinem roten Bart, einer Pfeife im Mund und einem Lächeln auf den Lippen.“[13]