Giorgio de Chirico, Portrait von Guillaume Apollinaire, 1914.
Öl– und Kohlezeichnung auf Leinwand, 81,5 x 65 cm.
Centre Georges-Pompidou, Musée National d’Art Moderne, Paris.
Die Geschichte des Surrealismus birgt eine wunderschöne Legende in sich: Ein Seemann kehrt nach einer langen Reise nach Paris zurück. Sein Name ist Yves Tanguy. Als er gerade mit dem Bus die Rue La Boétie entlang fährt, sieht er plötzlich im Schaufenster einer der zahlreichen Kunstgalerien ein Bild. Vor dem Hintergrund einer dunklen, geisterhaften Stadt ist der nackte Oberkörper eines Mannes abgebildet. Vor ihm auf einem Tisch liegt ein Buch, aber der Mann sieht nicht hin. Seine Augen sind geschlossen. Noch während der Fahrt springt Yves Tanguy aus dem Bus und läuft zu dem Schaufenster, um das merkwürdige Bild genauer zu betrachten. Der Titel des vom italienischen Maler Giorgio de Chirico gemalten Bildes lautet Das Gehirn des Kindes. Die Begegnung mit diesem Bild bestimmt fortan das Schicksal des Seemanns, denn Tanguy beschließt, für immer an Land zu bleiben und Künstler zu werden, obwohl er noch nie zuvor einen Stift oder Pinsel in die Hand genommen hatte.
Diese Geschichte ereignete sich im Jahre 1923, also ein Jahr, bevor der Dichter und Psychologe André Breton sein Surrealistisches Manifest in Paris veröffentlichte. Zwar erhebt diese Legende, wie jede andere, keinen Anspruch auf Detailtreue, aber eines ist sicher: das Bild von Giorgio de Chirico hinterließ einen so nachhaltigen Eindruck, dass es zu einer der Ursprünge der surrealistischen Kunst wurde, die sich nach dem Ersten Weltkrieg zu entwickeln begann. Das Gehirn des Kindes faszinierte neben Yves Tanguy aber auch noch jemand anderen:
Ich fuhr gerade mit dem Bus die Rue La Boétie entlang. Als ich an den Schaufenstern der alten Galerie Paul Guillaume vorbei kam, wo das Bild gerade ausgestellt war, sprang ich plötzlich auf, um auszusteigen und es mir genauer anzusehen“, erinnerte sich André Breton später. „Ich konnte lange Zeit an nichts anderes mehr denken und das Bild ließ mir solange keine Ruhe, bis es mir endlich gelang, es zu erwerben. Einige Jahre später kehrte das Bild dann, anlässlich einer allgemeinen de Chirico-Ausstellung, von meinem Haus an seinen ursprünglichen Ausstellungsort zurück in das Schaufenster der Galerie Paul Guillaume. Dort löste es bei einer anderen Person, die den selben Weg mit dem Bus fuhr, genau die gleiche Reaktion aus, die es jetzt, wo es wieder bei mir an der Wand hängt, immer noch bei mir auslöst, obwohl meine erste Begegnung mit diesem Bild schon so lange zurück liegt. Und diese Person war Yves Tanguy.[1]
Wie sich die Dinge genau zugetragen haben, ist von eher nebensächlicher Bedeutung, entscheidend ist, dass de Chiricos Bilder eine außergewöhnliche Wirkung auf die künftigen Surrealisten ausgeübt haben, wie es die Künstler selbst auch richtig erkannten. Erklären konnte man dieses Phänomen allerdings erst im Laufe der Zeit, nachdem die Bilder der europäischen Surrealisten bereits zu den legendären Kunstwerken zählten und die Zeit reif war, Bilanz zu ziehen und ihre künstlerische Sprache zu interpretieren.
Die geschlossenen Augen der de Chirico–Figur wurden als Appell an die Romantiker und Symbolisten interpretiert, die Welt nicht mit dem physischen, sondern mit dem inneren Auge zu betrachten und sich über die brutale Realität zu erheben. Gleichzeitig stellt der Künstler seine Figur nüchtern naturalistisch dar. Das Gesicht mit dem gewöhnlichen Gesichtsausdruck, die abstehenden Ohren, der vornehme Schnurrbart und der kleine Kinnbart, in Kombination mit einem Körper, der zwar bei Weitem nicht unathletisch ist, aber einfach etwas zu viel Raum einnimmt, sind typische und zugleich wesentliche Merkmale. Die geheimnisvolle Stimmung und Entrücktheit in diesem Bild wirken durch diese Widersprüche erschreckend echt. Mit seinem metaphysischen Gemälde setzte de Chirico seinen Zeitgenossen ein Beispiel für die Sprache des Surrealismus. Salvador Dalí definierte sie später als „Die Fixierung von Traumbildern in trompe l’oeil“[2]. Jeder Surrealist setzt dieses Prinzip in seiner ganz eigenen Weise um, aber genau darin liegt die Qualität ihrer die Grenzen der Realität überwindenden Kunst. Ohne Giorgio de Chirico hätte es den Surrealismus so nie gegeben.
Das Schicksal verband Giorgio de Chiricos Leben mit den Orten und Landschaften, die seine Fantasie anregten. Er wurde 1888 in Griechenland geboren, da sein Vater dort im Eisenbahnbau beschäftigt war. Seine Geburtsstadt war Volo, die Hauptstadt von Thessalien, wo der griechischen Sage nach die Argonauten ihre Suche nach dem Goldenen Vlies begannen. Die lebhaften Erinnerungen an die klassische Architektur Athens ließen Giorgio de Chirico sein ganzes Leben lang nicht los. „All diese prächtigen Sehenswürdigkeiten, die ich in meiner Kindheit in Griechenland zu sehen bekam (ich habe nie wieder etwas vergleichbar Schönes gesehen), haben mich ohne Zweifel tief beeindruckt und sich fest in meine Seele und mein Gedächtnis eingebrannt“, schrieb er in seinen Memoiren.[3]
In fast jedem seiner Bilder spiegeln sich seine Erinnerungen an die klassische Architektur und die Skulpturen des alten Griechenland wider. In Griechenland nahm er seinen ersten Zeichenunterricht. Mit zwölf Jahren begann de Chirico an der Akademie der Schönen Künste in Athen zu studieren. Nach dem Tod seines Vaters ging er schließlich im Alter von sechzehn Jahren gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Italien. Dort entdeckte de Chirico die wundervollen italienischen Städte, in denen der Geist des Mittelalters noch immer zu spüren war – Florenz, Mailand, Turin, Venedig und Verona.
Geprägt von den Eindrücken dieser Städte und seinen Erinnerungen an Griechenland schuf de Chirico sich in seinen Bildern seine eigene kleine Welt. Da die Bilder aus seiner Jugend, seiner sogenannten „Arkaden-Periode“, von einer Qualität sind, die avantgardistische Gemälde dieser Zeit oft vermissen lassen, sind sie besonders faszinierend. De Chirico entwarf seine Traumstadt – eine am Ufer eines tiefblauen Meeres gelegene weiße Stadt. Ihre geraden Straßen waren, wie in Turin oder Ferrara, von Arkaden gesäumt und mündeten in einem großen, mit antiken Skulpturen verzierten Platz. Aber die Stadt war vollkommen leer und unbewohnt. Nur vereinzelt gewährte die Straße dem Betrachter einen Blick auf einen Menschen und manchmal war es noch nicht einmal der Mensch selbst, sondern lediglich sein Schatten. An einigen Orten lehnte noch ein vergessener Spazierstock an der Wand und manchmal trieb sich ein kleines Mädchen auf der Straße herum, ganz allein in einer menschenleeren Stadt.
Vielleicht war diese sonderbare Stadt schon mal jemandem im Traum erschienen: sie hatte etwas Unwirkliches. Die Steine der Gebäude und die Schatten, die sie warfen, wirkten erschreckend echt, aber zugleich barg die Stadt auch etwas Geheimnisvolles in sich, eine leise Ahnung von einer anderen Welt, die wir zwar versuchen können, uns vorzustellen, die jedoch nur wenige Auserwählte tatsächlich zu sehen bekommen. Der surrealistische Dichter Paul Éluard widmete Giorgio de Chirico die folgenden Zeilen:
Eine Mauer kündet von einer anderen Mauer
Und der Schatten beschützt mich vor meinem furchtsamen Schatten
Oh Kreis meiner Liebe um meine Liebe
Alle Mauern umspinnen weiß meine Stille.
Du, was hast du schon verteidigt? Himmel, gefühllos und rein,
Zitternd verbargst du mich. Das Lichtrelief
Am Himmel, der nicht mehr Spiegel der Sonne ist
Die Tagessterne zwischen den grünen Blättern,
Die Erinnerungen an jene, die ohne Wissen sprachen,
Herren meiner Schwächen, und ich bin an ihrer Statt
Mit liebenden Augen und Händen, zu treu
Um eine Welt zu entvölkern, in der ich nicht bin.[4]
Das Leben schenkte Giorgio de Chirico eine weitere wundervolle Gelegenheit: Er verbrachte zwei Jahre in München, wo er nicht nur Malerei, sondern auch klassische deutsche Philologie studierte.
„Um originelle, außergewöhnliche und vielleicht sogar unsterbliche Ideen zu haben“, schrieb Schopenhauer, „muss man sich einfach nur für ein paar Sekunden so vollkommen von der Welt und den Dingen isolieren, dass einem die meisten gewöhnlichen Gegenstände und Ereignisse völlig neu und unbekannt erscheinen, um auf diese Weise das Wesentliche an ihnen zu entdecken“.[5]
In München entdeckte de Chirico einen Malstil, der das tief in seiner Seele schlummernde Verlangen nach Mystischem weckte, er lernte Arnold Böcklin kennen. Giorgio de Chirico kam 1911 nach Paris und ließ sich im Künstlerviertel Montparnasse auf der Rue Campagne-Premiere nieder. Als seine Gemälde im Salon d’automne auftauchten, sahen die Pariser Künstler den de Chirico, der sie später mit dem Gehirn des Kindes beeindrucken sollte und der schrieb: „Nicht was ich höre, sondern was ich mit offenen Augen sehe ist wichtig, aber noch viel wichtiger ist, was ich sehe, wenn meine Augen geschlossen sind.“[6] Giorgio de Chirico selbst nannte seine Kunst „metaphysisch“.