5. Landkarte Italiens, ca. 1450.
Bibliothek der University of Texas, Austin.
Andrea Mantegna lebte in einer Zeit der sozialen und kulturellen Veränderungen. Die Kontinuität der Institutionen – Kirche, Familie, Regierung – verschleiert den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel während der Jahrhunderte vor Mantegnas Zeit. Bis zum Quattrocento hatten sich anstelle einer statischen, agrarisch geprägten Gesellschaft blühende, auf Handel und kleine Manufakturen gegründete Städte herausgebildet. Das Italien des 15. Jahrhunderts wurde überwiegend von Bankiers, Händlern, Juristen und Manufakturbesitzern und weniger von Großgrundbesitzern geprägt. Eine Folge dieses Wandels hin zu einem durch Handel geprägten urbanen Leben war eine durch Wettbewerb zwischen Familien und Individuen geprägte dynamische Gesellschaftsstruktur. Man musste in einer sich ständig wandelnden Welt vorankommen, die nur noch wenigen Menschen einen automatischen Status oder dauerhafte Prosperität versprach. Diese Veränderungen waren zwar in den großen Zentren wie Florenz und Venedig besonders deutlich zu spüren, sie machten sich aber auch in kleineren Städten und Stadtstaaten bemerkbar, in denen sich die politische Macht in der Hand einer einzigen Familie befand, die sich in einer dynamischen Balance der politischen Macht behaupten und in einer fragmentierten Welt überleben musste.
Diese durch Wettbewerb und Dynamik geprägte Atmosphäre brachte in den Italienern eine neue, pragmatische Haltung hervor. Die Menschen beschrieben, vermaßen, beobachteten und bewunderten die sie umgebende Welt immer stärker und eine neue, auf Handel, Wissenschaft und Entdeckungen beruhende Kultur schlug Wurzeln. Diese weltliche Einstellung sollte zur Entdeckung neuer Länder und Völker in Asien, Afrika und Amerika führen. Der Historiker Jacob Burckhardt (1818 bis 1897) nannte die Renaissance die Ära der “Entdeckung der Welt und des Menschen”. Dies umfasste weit reichende intellektuelle Veränderungen und betraf alle Aspekte der Wissenschaften. Die Italiener entwickelten ein großes Interesse an dem, was wir heute Psychologie, die Analyse des Familienlebens und der gesellschaftlichen Rollen und Anthropologie nennen würden. Es gab sogar einen neuen realistischen Ansatz in der politischen Philosophie. Die pragmatischen und zuweilen zynischen Ratschläge zur Kunst der Staatsführung des Florentiners Niccolò Machiavelli (1469 bis 1527) sind ein eindeutiges Zeichen dieser Zeit, eine schonungslose Antwort auf die Launen des SchicksalDieser neue Realismus bedeutete aber auch ein erhöhtes Augenmerk auf persönliche Erfahrungen, was wiederum zu einer neuen Form des Individualismus führte. Die Literatur und andere Dokumente der Renaissance weisen einen Grad an Selbstreflexion und Selbstuntersuchung auf, wie er vorher letztmals in der Antike zu finden war.
Künstler des 15. Jahrhunderts wie Mantegna reagierten mit einem gesteigerten Realismus auf das wachsende Interesse an der realen Welt. Die Entwicklung einer überzeugenden Perspektive, die Abbildung von Landschaften und Stadtansichten sowie die zunehmende Zahl an Porträts sind Charakteristika der Kunst dieses JahrhundertViele Maler bemühten sich bewusst, die Natur zu imitieren, obwohl manche Künstler immer noch unnatürliche Effekte und einen fantastischen Idealismus in ihrer Kunst einsetzten. Mantegna jedoch gehörte zu einer Künstlergruppe, die bei seinen Zeitgenossen für ihren auffälligen Realismus bekannt war. Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser neuen und vollständigen Untersuchung der säkularen Welt neben dem wachsenden Interesse an der materiellen Existenz war die Wiederentdeckung des klassischen Altertums, vor allem der römischen Zivilisation, die in Italien so viele Monumente und literarische Texte hinterlassen hatte. Bereits im frühen Quattrocento entwickelte sich ein fast besessenes Interesse am Altertum: Münzen, Gedichte, Statuen und Inschriften wurden gesammelt, studiert und hoch geschätzt, und die antiken Gebäude wurden bewundert wie noch nie seit dem fast tausend Jahre zurück liegenden Niedergang des Römischen ReicheDiese beiden zentralen Aspekte der Kultur der Renaissance – die Faszination von der realen Welt (sowohl der Mensch als auch die Natur) und die Hinwendung zur antiken Kunst und Zivilisation – waren auch die zentralen Bezugspunkte der Kunst Mantegnas.
Im Mittelalter gab es ein nur lauwarmes Interesse an den visuellen Künsten des antiken Roms und GriechenlandDie römische Kunst war in Italien wenig bekannt und es bestand nur eine geringe Neigung, die Überreste einer untergegangenen heidnischen Zivilisation auszugraben. Ein Ereignis in der mittelitalienischen Stadt Siena aus den 1340er Jahren kann die damalige ambivalente Einstellung gegenüber der antiken Vergangenheit gut verdeutlichen: Eine zufällig freigelegte Marmorstatue der römischen Göttin Venus wurde auf dem zentralen Platz der Stadt aufgestellt. Die Öffentlichkeit war zunächst interessiert und mindestens ein Maler zeichnete sie auch. Aber nach einer Weile wurden die Einwohner Sienas unruhig und einige meinten, es würde der Stadt Unglück bringen, wenn man dieser nackten, heidnischen Göttin weiterhin huldigte. Die sich damals im Kriegszustand mit Florenz befindenden Einwohner Sienas zerschlugen die Statue also in Stücke und drangen eines Nachts in florentinisches Territorium ein, um die Fragmente dort zu vergraben, weil sie glaubten, dies würde ihren Gegnern Unglück bringen. Diese abergläubische Haltung verflüchtigte sich zu Anfang des 15. Jahrhunderts rasch. Bis zu Mantegnas Todesjahr, als in der Nähe Roms die Laokoon-Gruppe entdeckt wurde, hatten sich die Verhältnisse sogar völlig umgekehrt. Die bei der Ausgrabung im Jahr 1506 allgemein bewunderte antike griechische Skulptur zeigt einen trojanischen Hohepriester und seine Söhne, die von einer von einem strafenden Gott entsandten Schlange erdrosselt werden. Das Kunstwerk wurde in einer großen Parade in die Stadt gebracht, wobei Blumen auf ihren Weg gestreut wurden und Kirchenglocken läuteten – trotz des heidnischen Motivs und der Nacktheit der Figuren. Die Italiener verehrten nun alles aus der Antike. Mantegna war – mit seinen lebendig gemalten Abbildungen dieser Welt – eine wesentliche Figur bei der unter dem Begriff Renaissance bekannten Wiedergeburt der griechischen und römischen Kultur.
Die bemerkenswerte Zunahme humanistischen Wissens war in der intellektuellen Kultur des frühen 15. Jahrhunderts eine wichtige Entwicklung. Heute trägt der Begriff “Humanist” mehrere Bedeutungen und Konnotationen. Im Kontext der Renaissance war ein Humanist jemand, der vor allem die Literatur studiert hatte, besonders die des klassischen AltertumEin Teil der antiken Literatur war während des gesamten Mittelalters hindurch bekannt, sie wurde jedoch in erster Linie studiert, um Grammatik, Logik und Vokabeln zu lernen, während man ihr gleichzeitig wegen ihres heidnischen Charakters misstraute. Im 14. und noch stärker im 15. Jahrhundert suchten Gelehrte und reiche Mäzene geradezu besessen nach klassischen Schriften. Der florentinische Humanist Poggio Bracciolini (1380 bis 1459) durchstreifte in der Schweiz die Bibliotheken mittelalterlicher Klöster und entdeckte Manuskripte der Schriften von Cicero (106 bis 43 v.Chr.) und Tertullian (160 bis 220) - wertvolle Texte, die über Jahrhunderte in Pergamentstapeln vergessen waren und vernachlässigt verrotteten. Der Gelehrte Niccolò Niccoli (gest. 1437) entdeckte mehrere antike Texte und baute eine eigene kleine Sammlung aus römischen Statuen und Kameen auf. Zu der Zeit von Mantegnas Geburt befanden sich die Wiederbelebung der antiken Ideale und der Literatur in vollem Schwange. Dieses Interesse wurde von einer hartnäckigen und leidenschaftlichen Gruppe von Humanisten noch weiter angefacht, breitete sich im Italien des 15. Jahrhunderts rasch in einer größeren Öffentlichkeit aus und überschritt schon bald die Grenzen einer kleineren Gruppe humanistischer Gelehrter. Eine völlig neue, bis dahin ignorierte säkulare Welt öffnete sich, und Menschen aus allen Schichten und Altersstufen entwickelten eine unglaubliche Begeisterung für diese große Wiederentdeckung. Mantegna sollte später als Maler das öffentliche Bedürfnis nach einer die fernen, aber lobenswerten Zivilisationen des klassischen Altertums imitierenden Kunst, sei sie sakral oder säkular, befriedigen.