3. Tempel der Sagrada Familia, Neue Türme der Fassade der Geburt.

 

 

Gaudís Kindheit

 

Gaudí wurde nicht in Barcelona, der Stadt mit der ausschlaggebenden kulturellen Dynamik für seine Architektur, geboren, sondern in der kleinen katalanischen Stadt Reus. Biografen Gaudís haben in den Erfahrungen seiner Kindheit in der Provinz die Ursprünge für seine spätere Kreativität gesehen, eine Annahme, die auch durch Gaudí selbst mehrfach bestätigt wurde. Der Glaube an die Erblichkeit künstlerischen Talents untermauert Gaudís Versicherung, seine “Fähigkeit der räumlichen Wahrnehmung” von Kupferschmieden in der dritten Generation väterlicherseits und von einem Seefahrer mütterlicherseits geerbt zu haben. Unabhängig von der Richtigkeit dieser Aussage Gaudís wissen wir mit Bestimmtheit, dass sein Familienleben behaglich und stabil war. Als einziger Schatten lastet über seiner Kindheit eine Zeit schwerer Erkrankung, deren psychische Auswirkungen auf die Fantasie und die spirituellen Überzeugungen des kleinen Kindes sich nur schwer ermessen lassen. Die Tatsache, dass Gaudí diese Krankheit überlebt hat, könnte jedoch als ein frühes Anzeichen für eine stabile Konstitution und einen unnachgiebigen Willen interpretiert werden.

Mit großer Gewissheit kann davon ausgegangen werden, dass Gaudí in dieser Lebensphase an vier für seine spätere Karriere ausschlaggebende Faktoren herangeführt wurde: an sein Interesse an der Architektur, insbesondere der Architektur der Gotik; an die katalanische Kultur und Geschichte; an die katholische Doktrin und Frömmigkeit und nicht zuletzt an die Formen und Farben seiner natürlichen Umgebung. In vielerlei Hinsicht diente die Architektur als Medium zur Erforschung und Reflexion der drei letztgenannten Phänomene.

Neben den Spuren des mittelalterlichen Kulturerbes der Stadt Reus verfügten auch die benachbarten Städte und die umgebende Landschaft über eine Reihe wichtiger, besuchenswerter Gebäude, so beispielsweise die berühmte Pilgerkirche von Montserrat und Tarragonas imposante Kathedrale. Gaudís Wahrnehmung dieser Orte wurde maßgeblich von seinem Wissen beeinflusst, dass sie nicht so sehr Kulturerbe Spaniens, sondern vielmehr Kulturerbe der Region Katalonien und deren Hauptstadt Barcelona waren. Katalonien war einst Teil des unabhängigen, erst im 15. Jahrhundert zur Bildung des modernen spanischen Staates, wie wir ihn heute kennen, mit dem Königreich Kastilien vereinigten Königreiches von Aragon.

Der Balanceakt zwischen nationaler Einheit und regionaler Autonomie besteht bis zum heutigen Tag. Daraus hat sich in Katalonien ein starkes Gefühl nationaler Identität mit Barcelona als Zentrum entwickelt. Die Tatsache, dass viele der von Gaudí besuchten Gebäude religiöse Bauwerke waren, erinnert an die Sonderrolle, die die Religion bei der Entstehung der katalanischen Identität ebenso wie in der Geschichte anderer spanischer Regionen spielte. Als Erwachsener war Gaudí sowohl Anhänger eines trotzigen katalanischen Nationalismus als auch eines frommen Engagements innerhalb der katholischen Kirche. Während seiner Kindheit und Jugend lagen jedoch diese ernsthaften Belange noch in weiter Ferne.

Ein starkes jugendliches Interesse an Architekturgeschichte und ein großes Engagement für seine katalanische Heimat legten jedoch den Grundstein für seine späteren Überzeugungen. Gaudí besuchte nicht nur bestehende Gebäude, sondern suchte in der Gesellschaft von Freunden auch die Ruinen der großartigen Bauwerke der Vergangenheit auf und folgte den Spuren der Geschichte Kataloniens.

Die Annahme, dass diese Exkursionen in die ländliche Umgebung Gaudí eine kreative Vision der Landschaft, der Pflanzen, der Steine und anderer Naturelemente vermittelt haben, ist keineswegs absurd. Es gibt nur wenige mündliche Überlieferungen zu Gaudís Verhältnis zur Natur während seiner Jugendjahre, und zu einem besseren Verständnis dieses Aspekts seiner Gedankenwelt wird uns erst die eingehende Betrachtung seiner Architektur verhelfen. Ein eindeutiges frühes Anzeichen für Gaudís kreative und intellektuelle Fähigkeiten zeigt sich in einer Episode aus seiner Jugend, als er an einem Projekt zur Restauration der Ruine des Zisterzienserklosters von Poblet arbeitete.