2. Porträt von Gaudí.

 

 

Das Leben von Antoni Gaudí

 

 

Das Leben von Antoni Gaudí (1852-1926) lässt sich am besten durch eine konzentrierte Betrachtung seines Werkes erzählen und analysieren. Die Pläne, Entwürfe und Gebäude legen in einer Weise Zeugnis ab über seinen Charakter, seine Interessen und seine bemerkenswerte Kreativität, die im Gegensatz dazu durch die Erforschung seiner Kindheit, seines täglichen Lebens und seiner Arbeitsgewohnheiten nur spärlich beleuchtet werden. Hinzu kommt, dass Gaudí kein akademischer Denker war, der seine Gedanken und Ideen durch Unterrichten oder Verfassen schriftlicher Arbeiten für die Nachwelt erhalten wollte. Sein Arbeitsansatz war eher praktischer als theoretischer Natur. Und wie um zu verhindern, seine Gedankenwelt weiter zu erhellen, fiel ein Großteil des Gaudí-Archivs dem Spanischen Bürgerkrieg zum Opfer. Am 29. Juli 1936, im ersten Jahr des Spanischen Bürgerkrieges, wurde in der Sagrada Familia eingebrochen.

Die in der Krypta aufbewahrten Entwürfe, Dokumente und architektonischen Modelle wurden zerstört. Deshalb bleibt uns ein tiefer gehendes Verständnis des Menschen Gaudí, seines Charakters und seiner Denkweise für immer verwehrt. Dieser Mangel an Dokumenten schränkt die Möglichkeiten einer gründlichen biografischen Studie ein und hat zu einer Vielzahl spekulativer Interpretationsversuche geführt. Heute hat Gaudí einen fast mythischen Status – so wie seine Gebäude Kultcharakter haben. Während seine Arbeiten nach wie vor die andachtsvolle Bewunderung Tausender von Touristen hervorrufen, gibt es hinsichtlich seines Lebens ganz unterschiedliche Reaktionen. Als Ergänzung zur wissenschaftlichen Untersuchung von Joan Bassegoda i Nonnell oder der kürzlich veröffentlichten biografischen Studie von Gijs van Hensenberg hat aber auch das Leben Gaudís zur Legendenbildung und zu fantasiereichen Betrachtungen beigetragen.

Auf andere Art wiederum feierte das berühmte Opernhaus von Barcelona, el Liceu, den Architekten mit der Erstaufführung der Oper Antoni Gaudí von Joan Guinjoan im Jahre 2004. Dieser Prozess, Kultur zu zelebrieren, hat durch die Kampagne Associació Pro Beataifició d’Antoni Gaudí, den Architekten heilig zu sprechen, eine metaphysische Dimension angenommen. Die nicht enden wollenden Feiern sowie die Deutungen der Person Gaudí durch verschiedene Gruppierungen weisen darauf hin, dass in unserem Zeitalter der Postmoderne der asketische, von Inspiration durchdrungene, unermüdlich Schaffende für das breite Publikum nach wie vor eine der wichtigsten kreativen Persönlichkeiten ist. Gaudí bleibt weiterhin eine rätselhafte Figur, und die Versuche einer Interpretation sagen uns in der Regel mehr über den Interpretierenden als über Gaudí, wie sich in den folgenden Zitaten zeigt.

In seinem Essay Die erschreckende, genießbare Schönheit der modernen Architektur berichtet Salvador Dalí von einem Austausch mit dem Architekten Le Corbusier. Dalí meinte “…das letzte große Genie der Architektur war Gaudí, dessen Name auf katalanisch ‚genieße’ bedeutet”. Er bemerkte zwar, dass Le Corbusiers Gesichtsausdruck Ablehnung signalisierte, fuhr aber in seiner Argumentation fort; “...der Genuss und die Sehnsucht, die für den Katholizismus und die mediterrane Gotik charakteristisch sind, wurden von Gaudí neu erschaffen und in einen Freudentaumel versetzt.” Die Wahrnehmung der Person Gaudís und seiner Architektur, mit der der Surrealist den rationalen, modernistischen Architekten konfrontierte, zeigt einen immer wiederkehrenden Aspekt in der Geschichtsschreibung zu Gaudí. Es handelt sich dabei um die Bestrebung, Gaudí aus der klassischen Geschichte der Architektur herauszulösen und ihn als ein visionäres Genie darzustellen. Darüber hinaus will Dalí mit seinen Ausführungen Gaudí als Vorläufer des Surrealismus einordnen und ihn als einen Propheten oder Vorboten der Ästhetik und der Ideen der avantgardistischen Bewegung des Modernismus sehen. Während der fromme Katholik und gewissenhafte Architekt Gaudí vermutlich viele der Kunstwerke und Schriften Dalís verurteilt hätte, den hier zitierten Äußerungen hätte er sicherlich nicht widersprochen. Es muss jedoch festgehalten werden, dass man Gefahr läuft, Gaudís intellektuellen Standpunkt und seine traditionelle Religiosität zu vernebeln, wenn man ihn als einen Proto-Surrealisten darstellt.

Aus der Sicht der Geschichtsschreibung impliziert Dalís Aussage ein tieferes Verständnis für Gaudís fortdauernde Attraktivität, die in das frühe 21. Jahrhundert hineinreicht. Vielleicht könnte man argumentieren, dass die häufige Neuzuordnung und “Neuerfindung” vergangener Stile in der modernen Kunst, der Mode und dem modernen Design die Attraktivität von Gaudís künstlerischen Neuanordnungen – von Dalí “...als Freudentaumel der Gotik” bezeichnet – Vorschub geleistet hat. Es ist notwendig, an dieser Stelle zu erwähnen, dass Le Corbusier Gaudí in keiner Weise ablehnend gegenüberstand, denn aus dem Jahre 1927 stammt dieses folgende, von ihm überlieferte Zitat:

“Was ich in Barcelona gesehen habe, war die Arbeit eines Mannes von außergewöhnlicher Kraft, mit einem starken Glauben und technischen Fähigkeiten ausgestattet. ... Gaudí ist der Baumeister von 1900, der professionell mit Stein, Eisen und Mauerwerk arbeitet. Sein Ruhm wird in der heutigen Zeit in seinem eigenen Land anerkannt. Gaudí war ein großer Künstler. Nur diejenigen, die die empfindsamen Herzen der Menschen berühren, werden fortdauern und Bestand haben.”

Wie sich später noch zeigen wird, hätte Gaudí wohl eher Le Corbusier als Dalí zugestimmt. Le Corbusiers Kritik deutet auf einen unterschiedlichen Ansatz in der Analyse von Gaudís Werk hin. Er nimmt es im speziellen Kontext der Architekturgeschichte unter die Lupe.

Im Verlauf dieses Textes wird die Analyse der Bauwerke Gaudís versuchen, ein Gleichgewicht zwischen der ausgewogenen architektonischen Analyse Le Corbusiers und der Diskussion sich wandelnder kritischer Reaktionen, beispielsweise die von Dalí geäußerte, auf Gaudís Arbeit herzustellen. Die Grundlage für diesen Ansatz bildet eine differenzierte Auseinandersetzung zum tieferen Verständnis von Gaudís Leben. Seine Interessen und die seine Arbeit maßgeblich beeinflussende Gesellschaft von Barcelona müssen in Augenschein genommen und thematisiert werden. Aber an dieser Stelle muss auch betont werden, dass durch das Fehlen anderer Informationen das zugänglichste Vermächtnis dieses Künstlers seine Gebäude sind.