Hans Memling, Bildnis eines Mannes mit Brief, um 1475.

Öl auf Holz, 35 x 26 cm. Uffizien, Florenz.

 

 

I. Memlings Anfänge

 

 

In der Zeit des italienischen Quattrocento schlossen sich die nordeuropäischen Künstler nicht einer einzigen Kunstrichtung an, sondern entwickelten sich schnell und beständig weiter. Wenn auch die Werke einiger Künstler Ähnlichkeiten aufweisen, so gibt es in den Gemälden der großen Meister dieser Epoche, wie beispielsweise Jan van Eyck (um 1390 bis 1441), Rogier van der Weyden (um 1399 bis 1464), Hugo van der Goes (um 1440 bis 1482) oder auch Hans Memling (um 1433 bis 1494) doch grundlegende Unterschiede. Jeder von ihnen steht auf seine Weise für die „alte“ bzw. „neue Schule“. Wenn auch das XV. Jahrhundert in Flandern gelegentlich als „einfache Skizze“ des blühenden XVII. Jahrhunderts eines Rembrandt Harmens van Rijn (1606 bis 1669) oder eines Jan Vermeer van Delft (1632 bis 1675) dargestellt wird, so bleibt es doch eine reiche und einzigartige Epoche. Die vorangegangenen Jahrzehnte dieser bewegten Zeit waren von Migrationsbewegungen der niederländischen Künstler geprägt, die zwar den Ruhm ihrer Kunst mit sich brachten, aber in gewisser Hinsicht auch das Ende der „alten Schule“ kennzeichneten. Hans Memling war einer von ihnen. Und unter all den großen Namen, die ihr angehörten, ist es Memling, auf den Brügge ganz besonders stolz sein kann.

Und dennoch war er bereits hundert Jahre nach seinem Tod in dem Land, das er mit so vielen seiner Werke bereichert hatte, in völlige Vergessenheit geraten. In seinem 1604 veröffentlichten Buch Buch der Maler (Het Schilder-Boeck), einer wertvollen Sammlung von Biographien deutscher und niederländischer Künstler des XV. und XVI. Jahrhunderts, erwähnt Carel van Mander (1548 bis 1606) nur, dass Hans Memling ein großer Meister seiner Zeit, d.h. vor der Zeit Pieter Pourbus’ (um 1523 bis 1584), also vor 1540, war. Ihm zufolge stammte Memling aus der Stadt Brügge[2], während er nach Auffassung von Jean-Baptiste Descamps (1714 bis 1791) in Damme geboren sein soll.

Zweifellos war er jedoch deutscher Herkunft. Von allen Autoren und in allen Dokumenten wird er einhellig als „Meister Hans“ betitelt, was als Beweis ausreichen sollte: Hans ist die deutsche Bezeichnung für Jean: in den Niederlanden wird daraus Jan, ausgesprochen wie Yann, da der Laut „j“ in den germanischen Sprachen unbekannt ist und stattdessen die Verkleinerungsform Hanneken.[3] verwendet wird. Im Übrigen wird dies von dem Maler und Biographen Marc van Vaernewyck (1518 bis 1569) noch bestätigt: „In Brügge,“ so sagt er, „sind nicht nur die Kirchen, sondern auch besondere Gebäude mit Gemälden von Meister Hugues, Meister Rogier und von Hans dem Deutschen, geschmückt.“[4]

Wenn Brügge auch nicht Geburtsort vieler renommierter Maler war, so zog es doch in der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts zahlreiche Künstler in diese Stadt, die einen guten Kunstmarkt und eine hohe Lebensqualität zu bieten hatte. Die berühmtesten – und diejenigen, deren authentische Werke dort aufbewahrt wurden – waren wahrscheinlich die Brüder Hubert (1370 bis 1426) und Jan van Eyck. Der Ältere lebte dort zu Beginn des Jahrhunderts, später ließ er sich in Gent nieder. Jan hingegen lebte zunächst nur von Mai bis August des Jahres 1425 in der Stadt. Im Jahr 1431 ließ er sich dann endgültig dort nieder, bis zu seinem Tod im Jahr 1441.

Auch der aus Baarle stammende Peter Christus, ein Schüler der Brüder van Eyck, lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1473 (bzw. 1474) in Brügge. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass auch die Familie Memling in diese Stadt zog. Die Mutter des Künstlers könnte jedoch flämischer Herkunft gewesen sein - der ausgeprägte Charakter der Gemälde lässt es vermuten. Seine deutsche Abstammung bestätigt sich schließlich durch die Entdeckung einer Eintragung ins Bürgerregister von Brügge vom 30. Januar 1465 unter dem Namen Jan van Mimmelynghe, Sohn des Hamman, geboren im hessischen Seligenstadt, einer der ältesten Städte in Deutschland. Allerdings gibt es noch einige Alternativnamen für ihn, so etwa Jan van Memmelynghe, Jean van Memlync und Johannes Memelinc. Im Register von Seligenstadt wird Memling als einer der großen Söhne dieser Stadt geführt. Es kann durchaus sein, dass Memling bereits ein bedeutender Maler war, als er sich in Brügge niederließ: Die Tatsache, dass er in keinem Register der Brügger Malergilde eingetragen ist, zeigt, dass er seine Kunst wahrscheinlich ohne jede Einschränkung ausüben konnte.

Memling wurde vermutlich im Jahr 1435 geboren. Der Arzt und Kunsthistoriker Don Giovanni Morelli (1816 bis 1891) hat die Aufzeichnungen eines anonymen Reisenden veröffentlicht, nachdem er im Jahr 1521 bei Kardinal Grimani ein Selbstportrait des Künstlers gesehen hatte, auf dem er etwa siebzig Jahre alt war. Da er im Jahr 1494 verstarb, müsste er somit etwa 1424 geboren worden sein. Als er sich aber vor dem Spiegel selbst porträtierte, war er wohlbeleibt und von blühendem Aussehen, so dass die Annahme, dass er das Bildnis in seinem Todesjahr fertig stellte, doch sehr gewagt scheint. Es ist daher wahrscheinlicher, dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht am Ende seiner Laufbahn angelangt war und man somit seine Geburt zwischen 1433 und 1440 vermuten kann. Man kann sich vielleicht auf das Jahr 1433 festlegen, damit seine Hochzeit mit der Frau, mit der er drei Kinder hatte, nicht zu spät erfolgt.

Zwar wuchs Memling zweifellos nach niederländischer Tradition auf, seine Lehrzeit und die Identität seines Meisters werfen jedoch zahlreiche Fragen auf. Da er erst acht Jahre alt war, als Jan van Eyck im Juli des Jahres 1441 verstarb, kann man wohl kaum davon ausgehen, dass er unter dessen Anleitung die Malkunst erlernte: Überdies weisen die Werke der beiden Künstler grundlegende Unterschiede auf. Trotz allem muss er ihn wohl viele Male in den Straßen der Stadt, in den Kirchen oder bei öffentlichen Veranstaltungen an Feiertagen getroffen und ihn mit dem frühreifen Instinkt, der allen Hochbegabten zu Eigen ist, studiert haben. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er auch bei seinem Begräbnis in den Gewölben von Saint-Donat zugegen. Eine sichtlich bewegte Menschenmenge umgab den schlichten Sarg Jan van Eycks, während die Orgel mit ihren klagenden Tönen die Kirchenschiffe vor erhabener Verzweiflung erzittern ließ und die Priester während der Totenmesse die folgenden schönen Worte sangen: „Was aus der Erde kommt, kehrt zur Erde zurück, was von Gott kommt, kehrt zu Gott zurück!“