Der Titel eines Gemäldes von Claude Monet (1840-1926), das 1874 bei der ersten Ausstellung einer sich als „Société anonyme des artistes peintres, sculpteurs, graveurs etc.“ bezeichnenden Künstlergruppe gezeigt wurde, lautete Impression, Sonnenaufgang. Zuvor hatte Monet in Le Havre, der Stadt, in der er aufgewachsen war, eine Reihe von Landschaftsbildern und Seestücken gemalt, von denen er die besten für die Ausstellung auswählte. Die Gestaltung des Katalogs übernahm Edmond Renoir, ein Bruder des gleichnamigen Malers. Zu Recht warf er Monet die Eintönigkeit der gewählten Bildtitel vor – Originelleres als Blick auf Le Havre hatte der Maler sich nicht einfallen lassen. Diesen Titel hatte er für die Darstellung eines Hafens im Morgengrauen vorgesehen: Ein bläulicher Nebeldunst hüllt die Umrisse von Segelschiffen ein, dunkle Bootssilhouetten gleiten gespenstisch dahin, über den Horizont steigt orangefarben die flache Scheibe der Sonne empor und wirft eine erste, rötliche Lichtspur auf die Wasserfläche. Nach den herrschenden ästhetischen Kriterien war das überhaupt kein Gemälde, sondern eher eine Art Skizze in Öl, rasch hingeworfen, um den flüchtigen Augenblick einzufangen, in dem ein neuer Tag anbricht. Offensichtlich war der Titel Blick auf Le Havre für dieses Bild denkbar ungeeignet, schon weil Le Havre auf ihm gar nicht zu sehen war. „Schreiben Sie doch: Impression“, schlug Monet daher Edmond Renoir vor, und so begann die Geschichte des Impressionismus. Am 25. April 1874 veröffentlicht der Kritiker Louis Leroy (1812-1885) in der Zeitschrift Le Charivari eine satirische Rezension dieser Ausstellung.
Ein bekannter Künstler verliert angesichts der ausgestellten Werke zunehmend den Verstand. Er hält das gepflügte Feld auf einem Gemälde von Camille Pissarro für Kratzer einer Palette auf einer schmutzigen Leinwand, er kann Oben und Unten, Rechts und Links nicht mehr auseinanderhalten. Claude Monets Bild Boulevard des Capucines entsetzt ihn, und Monets Impression, Sonnenaufgang brachte das Fass zum Überlaufen. „Impression, dachte ich mir“, murmelt der Künstler. „Impression ist da bestimmt drin. Und diese Freiheit, diese Flüchtigkeit in der Ausarbeitung! Eine Tapete im Urzustand ist ausgearbeiteter als dieses Gemälde!“ Und er beginnt herumzutanzen und zu rufen: „Hough! Hough! Ich bin auf dem Pfad des Impressionismus, das Messer an der rächenden Palette!“
Leroy überschreibt seine Satire: Ausstellung der Impressionisten. Dank seiner Begriffsstutzigkeit steht der Bildtitel Monets am Ursprung eines neuen Begriffs, so geistreich und treffend, dass er für immer in den Wortschatz der Kunstgeschichte eingehen wird. Monet selbst hat die Urheberschaft für die Bezeichnung „Impressionismus“ beansprucht, als er 1880 gegenüber einem Journalisten erklärte:
Ich habe dieses Wort erfunden, jedenfalls habe ich irgendeinem Figaro-Journalisten Gelegenheit gegeben, das Schlagwort in die Welt zu setzen. Mit welchem Erfolg, das wissen Sie ja.
Eine schmale Bucht in Saint Thomas (Jungferninseln), 1856
Öl auf Leinwand, 24,5 x 32,2 cm. Sammlung von Hr. und Fr. Paul Mellon, National Gallery of Art, Washington, D.C.
Die Ufer der Marne bei Chennevières, um 1864-1865
Öl auf Leinwand, 91,5 x 145,5 cm. Scottish National Gallery, Edinburgh
Das Haus des Père Gallien, Pontoise, 1866
Öl auf Leinwand, 40 x 55 cm. Ipswich Borough Council Museums and Galleries, Ipswich (Suffolk)
Ein Platz in La Roche-Guyon, 1866-1867
Öl auf Leinwand, 50 x 61 cm. Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin
Die Gruppe junger Künstler, die auf diese Weise zu der Bezeichnung „Impressionisten“ gelangte, hatte sich seit Beginn der sechziger Jahre zusammengefunden. Claude Monet, der Sohn eines Kolonialwarenhändlers in Le Havre, Frédéric Bazille (1841-1870), Spross wohlhabender Eltern aus Montpellier, Alfred Sisley (1839-1899), der von einer in Frankreich lebenden englischen Familie abstammte und der Pariser Schneidersohn Pierre-Auguste Renoir (1841-1919) lernten sich im Atelier des Kunstprofessors Charles Gleyre (1806-1874) kennen, von dem sie sich in der Malkunst unterweisen ließen. In ihren Augen verkörperte Gleyre die klassische Schule wie kein anderer.
Charles Gleyre war damals sechzig Jahre alt. Der aus einem Ort am Genfer See stammende Schweizer hatte seit seiner Kindheit in Frankreich gelebt, nach dem Besuch der École des Beaux-Arts jedoch sechs Jahre in Italien verbracht. Seine Erfolge bei den schon seit Jahrhunderten alle zwei Jahre in Paris organisierten Ausstellungen für Gegenwartskunst, den sogenannten Salons, hatten ihn bei seinen Zeitgenossen berühmt gemacht. Gleyres Spezialität waren großformatige Gemälde, auf denen er biblische und mythologische Motive in vollendet klassizistischer Klarheit zelebrierte; der Körperbau seiner weiblichen Aktdarstellungen hielt jedem Vergleich mit den Werken des großen Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780-1867) stand.
Seinen Kunstunterricht erteilte Gleyre in einem von Hippolyte Delaroche (1797-1856), einem anderen erfolgreichen Salon-Maler, eingerichteten Atelier. Hier erhielten die Studierenden eine traditionelle, klassische Ausbildung, blieben jedoch von den offiziellen Anforderungen der École des Beaux-Arts verschont und genossen den Vorzug, vom ersten Tag an am lebenden Modell studieren zu können.
Niemand hat die Ausbildung, die die künftigen Impressionisten hier genossen, besser geschildert als Pierre-Auguste Renoir. Seinem Sohn Jean, dem großen Regisseur, erzählte er später, wie „Gleyre, ein mächtiger, bärtiger und kurzsichtiger Schweizer“, ihn „in einen großen, kahlen Raum [führte], in dem junge Leute über ihre Staffeleien gebeugt waren. Durch eine Glaswand, vorschriftsmäßig auf der Nordseite, fiel graues Licht auf ein nacktes Modell“. Die hier versammelten Studierenden waren, wie schon ihr Äußeres zeigte, sehr unterschiedlicher Herkunft: während der Handwerkersohn Renoir im praktischen Anstreicherkittel erschien, kleideten die Sprösslinge begüterter Familien, die hergekommen waren, um „Künstler“ zu spielen, sich vorzugsweise in schwarze Samtwämser, zu denen sie ein passendes Barett trugen. Renoir war schlicht „gekommen, um Zeichnen zu lernen. Er bedeckte sein Papier mit Kohlestrichen, und rasch war er ganz in die Form einer Wade oder die Krümmung einer Hand versunken.“ Für ihn und seine Freunde war der Unterricht kein Spiel, so sehr auch die Leichtigkeit, mit der er arbeitete, seinen Lehrer aus dem Konzept brachte. Renoir erzählte, wie Gleyre einmal verblüfft hinter ihm stand und lange seine Skizze betrachtete. Dann: „Junger Mann, Sie sind sehr geschickt, sehr begabt, aber man könnte denken, Sie malen zum Spaß!“ ‚„Natürlich“, antwortete mein Vater, „wenn es mir keinen Spaß machte, würde ich ja gar nicht malen“.
Die Côte du Jallais, Pontoise, 1867
Öl auf Leinwand, 87 x 114,9 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York
Hermitage bei Pontoise, um 1867
Öl auf Leinwand, 151,4 x 201 cm. Sammlung Thannhauser, Solomon R. Guggenheim Museum, New York
Das Gespräch (Die Route de Versailles in Louveciennes), 1870
Öl auf Leinwand, 100 x 81 cm. Stiftung Sammlung E. G. Bührle, Zürich
Die Straße nach Versailles in Louveciennes, 1870
Öl auf Leinwand, 33 x 41,3 cm. Sterling and Francine Clark Art Institute, Williamstown (Massachusetts)
Louveciennes mit dem Mont Valérien im Hintergrund, 1870
Öl auf Leinwand, 45 x 53 cm. Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin
Alle vier brannten darauf, sich die Anfangsgründe der Malkunst und die klassische Technik anzueignen. Sie studierten die Modelle so eifrig, dass sie nicht nur die obligatorischen Prüfungen mühelos bestanden, sondern sogar Auszeichnungen in den Fächern Zeichnen, Perspektive, Anatomie und „Ähnlichkeit“ erwarben. Reihum wurde jeder von ihnen von seinem Lehrer zu seinen Arbeiten beglückwünscht. Um ihm eine Freude zu machen, malte Renoir eines Tages einen Akt genau nach den Schulvorschriften:
Karamellfarbenes Fleisch entsteigt nachtschwarzem Pech, das Gegenlicht streichelt die Schulter, der Gesichtsausdruck ist gequält wie bei Leibschmerzen.
Zu Recht gewann Gleyre den Eindruck, dass sein Schüler sich damit einen Spaß erlaubt hatte: Er hatte gezeigt, dass er exakt nach Vorschrift malen konnte und bestand doch darauf, die Modelle so darzustellen, „wie sie im täglichen Leben aussehen!“ Claude Monet erinnert sich an die Reaktion, die eine seiner Aktstudien bei Gleyre auslöste:
Nicht schlecht, rief er, wirklich nicht schlecht! Aber Sie bleiben zu dicht am Modell. Sie haben einen gedrungenen Mann. Er hat riesige Füße, und Sie geben sie wieder, wie sie sind. Das ist alles sehr hässlich. Denken Sie daran, junger Mann, wenn man eine Figur darstellt, muss man sich immer an die Antike halten. Die Natur, mein Freund, ist sehr schön als Studienobjekt, aber ansonsten uninteressant.
Aber gerade die Natur interessierte die künftigen Impressionisten. Schon bei ihrer ersten Begegnung wurde Renoir von Frédéric Bazille aufgeklärt: „Mit den großen klassischen Kompositionen ist’s vorbei. Das Schauspiel des täglichen Lebens ist aufregender.“ Gleyres Verachtung für die Natur brachte seine besten Schüler gegen ihn auf. Einer von ihnen erinnert sich:
Die Landschaftsmalerei war für ihn eine dekadente Kunst, und der glorreiche Rang, den sie sich bei den Zeitgenossen erkämpft hatte, eine Usurpation; die Natur taugte nur als Rahmen und Hintergrund, und mehr war sie bei ihm nie, wenn er seine Landschaften auch genauso gewissenhaft und sorgfältig malte wie die menschlichen Gestalten, denen sie als Rahmen dienen mussten.
Immerhin konnte sich niemand beklagen, in Gleyres Atelier zu irgendetwas gezwungen zu werden. Zwar standen die Meisterwerke des Louvre – die antike Skulptur und die Gemälde von Raffael und Ingres vor allem – auf dem Programm. Praktisch ließ Gleyre seinen Studierenden jedoch völlig freie Hand. Er vermittelte ihnen unerlässliche Kenntnisse in den Techniken der Malerei, in der Beherrschung der klassischen Komposition, der Präzision der Zeichnung und der Schönheit des Schwungs – Dinge, die den Impressionisten später immer wieder abgesprochen werden sollten.
Bazille, Monet, Renoir und Sisley verließen ihren Lehrer schon 1863. Gerüchte gingen um, nach denen Gleyre sein Atelier aus Geldmangel und Krankheitsgründen schließen müsse.
Im Frühjahr 1863 schrieb Bazille seinem Vater:
Monsieur Gleyre ist ziemlich krank, anscheinend ist sein Augenlicht bedroht. Alle seine Schüler sind sehr betrübt darüber, denn er ist ein Mensch, den man nicht kennenlernen kann, ohne ihn lieb zu gewinnen.
Kastanienbäume in Louveciennes, Frühling, 1870
Öl auf Leinwand, 59,5 x 73 cm. Museum Langmatt, Baden (Schweiz)
Der Zaun, 1872
Öl auf Leinwand, 37,8 x 45,7 cm. Sammlung von Hr. und Fr. Paul Mellon, National Gallery of Art, Washington, D.C.
La Ruelle des Poulies, Pontoise, um 1872
Öl auf Leinwand, 52,4 x 81,6 cm. Memphis Brooks Museum of Art, Memphis
Jean Renoir resümiert die Erinnerungen seines Vaters Pierre-Auguste an die Diskussionen innerhalb der Gruppe:
Corot, Courbet, Manet und die Schule von Fontainebleau arbeiteten bereits nach der Natur. Aber sie übersetzten sie und folgten damit dem Rat der Alten. Die „Intransigenten“ hofften, ihre unmittelbare Wahrnehmung unübersetzt auf die Leinwand bringen zu können. […] Die Schulmalerei hatte über der Nachahmung der Nachahmer der Meister ihren Geist ausgehaucht. Renoir und seine Freunde aber waren höchst lebendig. Ihnen fiel die Aufgabe zu, die französische Malerei zu erneuern. […] Sie brannten vor Begierde, ihre Entdeckung der Wahrheit dem Publikum mitzuteilen. Die Einfälle sprühten, kreuzten sich, es hagelte Erklärungen. Einer schlug in vollem Ernst vor, den Louvre zu verbrennen.
Vermutlich war es Sisley, der die Freunde dazu veranlasste, ebenfalls in den berühmten Wald von Fontainebleau aufzubrechen und Landschaften zu malen. Statt eines nach den Regeln der Kunst auf einem Podest aufgestellten Aktmodells hatten sie dort die Natur selbst vor Augen, die unendliche Unterschiedlichkeit des im Sonnenlicht flimmernden Blätterwerks. „Unsere Entdeckung der Natur verdrehte uns den Kopf“, gestand Renoir später. Es ist anzunehmen, dass Édouard Manets (1832-1883) Frühstück im Grünen, das 1863 im Salon ausgestellt wurde und die jungen Maler ebenso wie die Kritik und das breite Publikum verblüffte, bei ihrer Begeisterung für die Natur eine große Rolle spielte. Denn Manet hatte bereits ein Stück dessen vorweggenommen, wovon sie bisher nur träumten: Er hatte die ersten Schritte auf dem Weg von der klassischen Schule zum modernen Leben zurückgelegt.
Die Formel, es gelte, den Louvre in Brand zu stecken, war wohl doch nicht mehr als eine spontane Zuspitzung, wie sie in einer Diskussion unterlaufen kann. Auf die Frage, ob seine klassische Ausbildung ihn denn etwas gelehrt habe, antwortete Renoir später:
Viel sogar, und zwar trotz meiner Lehrer. Es ist vorzüglich, wenn man gezwungen wird, zehnmal das gleiche Objekt zu kopieren. Zwar ist es langweilig, und man täte es nicht, wenn man nicht dafür bezahlen müsste. Aber wirklich lernen kann man außerdem im Louvre.
Der Tod von Gleyre im Jahr 1874 war nicht der einzige Grund, warum die Künstler ihre Lehrzeit beendeten. Vermutlich hatten die zukünftigen Impressionisten das Gefühl, dass ihr Lehrer ihnen bereits alles beigebracht hatte, was er ihnen vermitteln konnte, und es trieb sie hinaus ins wirkliche Leben. Wenn Bazille, Monet, Sisley und Renoir das Atelier verließen, kamen sie an der Closerie des Lilas vorbei, einem Café an der Kreuzung Boulevard Montparnasse und Avenue de l’Observatoire, in dem sie sich oft in langen Diskussionen über die Zukunft der Malerei die Köpfe heiß redeten. Bazille führte seinen neuen Freund Camille Pissarro in diesen Kreis ein, der sich Les Intransigeants („Die Unbeugsamen“) nannte und von einer neuen Renaissance träumte.
Landhaus in Hermitage, Pontoise, 1873
Öl auf Leinwand, 50,5 x 65,5 cm. Kuntstmuseum St. Gallen, St. Gallen
Die Oise bei Pontoise, 1873
Öl auf Leinwand, 46 x 55,7 cm. Sterling and Francine Clark Art Institute, Williamstown (Massachusetts)
Bäuerin, einen Schubkarren schiebend, Maison Rondest, Pontoise (Landschaft nahe Pontoise), 1874
Öl auf Leinwand, 65 x 51 cm. Nationalmuseum, Stockholm
Als Paul Durand-Ruel (1831-1922) um Pissarros biografische Angaben bat, fasste dieser seinen Lebenslauf folgendermaßen zusammen:
Geboren auf Saint Thomas (damals Dänisch-Westindien) am 10. Juli 1830. Eintritt ins Internat des Collège Savary in Passy im Jahr 1841. Rückkehr nach Saint Thomas 1847, Beginn meiner Arbeit an Zeichnungen, gleichzeitig Angestellter in einem Handelshaus. 1852 gab ich diese Tätigkeit auf und brach mit Herrn Fritz Melbye, dänischer Maler, nach Caracas (Venezuela) auf, wo ich bis 1855 blieb; danach Rückkehr nach Saint Thomas, Tätigkeit im Handel. Schließlich kam ich Ende 1855 wieder nach Frankreich, zeitig genug für die Weltausstellung, die ich noch drei, vier Tage sehen konnte. Seither bin ich in Frankreich sesshaft geworden. Was den Rest meiner Lebensgeschichte als Maler angeht, so gehört sie der Geschichte der Impressionistengruppe an.
Dieser „Rest seiner Existenz“ ist sein ganzes Leben, das tatsächlich untrennbar mit dem Impressionismus verbunden war. Ohne ihn wäre Pissarros Lebensgeschichte nur eine banale Biografie, typisch für alle Maler, oder doch für einen Großteil von ihnen.
Das Leben Camille Pissarros begann also in einer exotischen Welt, auf der felsigen Insel Saint Thomas, nicht weit von Puerto Rico. Der Vater des Malers, ein jüdischer Geschäftsmann, hatte vor, seinen Kindern den von ihm aufgebauten Eisenwarenladen zu vermachen. Er schickte seinen Sohn auf eine angesehene Schule im vornehmen Pariser Vorort Passy, wo er sechs Jahre verbrachte. Der Leiter dieser Schule achtete auf die Förderung der künstlerischen Anlagen seiner Schüler, und Pissarro begann zu zeichnen. Nach seiner Rückkehr arbeitete Camille fünf Jahre lang im väterlichen Geschäft, fuhr jedoch auch dort fort zu zeichnen. Eines Tages überwachte Camille die Verladung von Waren im Hafen, wobei er zugleich auf einem Skizzenblock die Matrosen bei der Arbeit festhielt. Der Maler Fritz Melbye (1826-1869), der gerade auf Saint Thomas weilte, wurde auf Camille aufmerksam und überzeugte ihn davon, dass auch er für die Malerei bestimmt sei. Obwohl Camilles Arbeit gut bezahlt war, hätte er diese bürgerliche Existenz nicht mehr lange ertragen – so erinnerte Pissarro sich jedenfalls später. Er gab alles auf und floh mit Melbye nach Caracas. Dort erwarteten ihn zahlreiche Schwierigkeiten, die er aber mit seiner jugendlichen Energie und Begeisterung überwand. Wenn er noch einmal die Wahl hätte, würde er sich genauso verhalten, behauptete Pissarro später. Trotzdem kehrte er nach Saint Thomas zurück und trat wieder ins väterliche Geschäft ein. Gleichzeitig fuhr er fort, alles zu zeichnen, was ihm unter die Augen kam. Da er sich in den Kopf gesetzt hatte, aus der Kunst seinen Beruf zu machen, schienen ihm seine Skizzen und Studien unerlässlich. Schon jetzt standen Landschaften im Vordergrund seines Interesses, sein Hauptaugenmerk galt der Tiefe des Raums und der Komposition des Bildes.
Der Vater, der an der Ernsthaftigkeit seiner Absichten nicht mehr zweifeln konnte, erlaubte ihm nun, die École des Beaux-Arts in Paris zu besuchen.
Es ist kein Zufall, dass Pissarro in seinem biografischen Abriss die Weltausstellung von 1855 erwähnt. Hier begegnete er den Werken von Eugène Delacroix (1798-1863), den Landschaften von Charles-François Daubigny (1817-1878), Johan Berthold Jongkind (1819-1891) und Jean-François Millet (1814-1875). Mit Sicherheit hat er auch Gustave Courbets (1819-1877) Pavillon des Realismus gesehen. Sie alle boten dem jungen Maler wichtige Anhaltspunkte. Am meisten jedoch fühlte er sich von der Malerei Jean-Baptiste Camille Corots (1796-1875) angezogen. Er suchte ihn auf und bat ihn um die Erlaubnis, sein Schüler zu werden. Corot nahm keine Schüler an, akzeptierte jedoch, Pissarro Ratschläge zu geben. Monet erinnerte sich später, dass Pissarro damals in der Manier Corots arbeitete – ein Vorbild, das Monet in keiner Weise missbilligte, dem er sogar selbst nachstrebte. In dem Katalog des Salon von 1859 jedoch, der auch ein Bild Pissarros zeigte, wird er als Schüler von Antoine Melbye aufgeführt. Der ältere Bruder jenes Fritz Melbye, der in Pissarro die Berufung zum Maler geweckt hatte, stand damals als Maler von Seestücken in hohem Ansehen. Antoine Melbye hatte eine gute Malschule in Düsseldorf besucht, seine Historien- und Genrebilder fanden in verschiedenen Ländern Anklang und verkauften sich gut. Für Pissarros künstlerischen Werdegang spielte er eine nicht zu unterschätzende Rolle. Aus Dankbarkeit für die Ratschläge beider Meister signierte Pissarro noch 1864 seine Bilder mit dem Zusatz „Schüler von Melbye und Corot“.
Brustbild von Lucien Pissarro, um 1875
Aquarell und Kohle auf Papier, 28,3 x 23,5 cm, Privatsammlung, Paris
Der Weiher in Montfoucault. 1875
Öl auf Leinwand, 73,6 x 92,7 cm. The Barber Institute of Fine Arts, Birmingham
Die Postkutsche auf der Straße von Ennery nach Hermitage, Pontoise, 1877
Öl auf Leinwand, 46,5 x 55 cm. Musée d’Orsay, Paris
1859 zogen auch die Eltern Pissarros nach Paris um. Camille verliebte sich in das Kammermädchen seiner Mutter, eine junge Frau ländlicher Herkunft, die aus Burgund kam. Der Vater stellte sich dieser Verbindung entgegen und entzog seinem Sohn die monatliche Unterstützung. Von nun an begannen Pissarros materielle Schwierigkeiten, die bis an sein Lebensende nicht abreißen sollten. Erst 1871 in England wagte es Camille Pissarro, Julie Vellay, die ihm in allem Elend stets eine treue Gefährtin blieb, zu heiraten.
Anscheinend suchte Pissarro in unterschiedlichen Ateliers der École des Beaux-Arts nach einem geeigneten Lehrer, bevor er sich an die Académie Suisse wandte. Was die jungen Leute hierher zog, war die Freiheit in der Ausbildung: Man konnte lebende Modelle zeichnen, die man in der École des Beaux-Arts erst im dritten Studienjahr zu Gesicht bekam, und dies, ohne sich groß um die Anweisungen eines Lehrmeisters kümmern zu müssen. In der Académie Suisse lernte Pissarro auch Claude Monet und Paul Cézanne (1839-1906) kennen (bei Gleyre hatte er niemals Unterricht genommen). Bazille, der eines Tages bei Édouard Manet seine Bekanntschaft gemacht hatte, nahm ihn in die Closerie des Lilas mit, wo die künftigen Impressionisten gern zusammenkamen. Pissarro war ein Jahrzehnt älter als sie und auch zwei Jahre älter als Manet, sodass er für alle bald „Vater Pissarro“ hieß. Pissarro brauste leicht auf, war aber intelligent und gutherzig, sodass er für die Impressionisten wirklich zu einer Art Vaterfigur werden konnte. Auf seinem Selbstbildnis von 1873, das den 43-jährigen im Arbeitsrock vor dem Hintergrund an der Wand befestigter Skizzen zeigt, umrahmt ein buschiger Vollbart ein Patriarchenhaupt, aus dem biedere, rechtschaffene Augen blicken. „Von den Antillen gebürtig, sprach er langsam, mit leicht singendem Akzent“, erinnert sich Pierre-Auguste Renoir.
„Sein Äußeres war vernachlässigt, seine Ausdrucksweise aber höchst gepflegt. Er sollte der Theoretiker der neuen Schule werden.“ Im Café Guerbois, wo alle Welt ihn liebte und respektierte, wurde Pissarro zum Stammgast.
Pissarro konnte 1866 sein Ufer der Marne im Winter auf der Salon-Ausstellung zeigen: ein düsterer Hügel vor dem Hintergrund eines wolkenverhangenen Himmels, ein ödes Feld und ein einsames Gehöft. Der erste Kritiker, dem dieses Gemälde auffiel, war Émile Zola (1840-1902), der Freund und Anwalt Édouard Manets. Er schrieb über ihn:
Auf dem Salon von Herr Pissarro ist ein Unbekannter, von dem wohl keiner sprechen wird. […] Sie müssen wissen, dass Sie niemandem gefallen, und dass man Ihr Bild zu nackt, zu finster findet. […] Eine so strenge und ernsthafte Manier, ein so weit getriebenes Bemühen um Wahrheit und Richtigkeit, ein so herber und starker Wille – mein Herr, Sie sind sehr ungeschickt. Sie sind ein Maler, wie ich ihn liebe.
Im selben Jahr zog Pissarro in das Städtchen Pontoise um. Daubigny hatte ihm von der Schönheit der Landschaft am Ufer der Oise erzählt; außerdem wohnten hier Verwandte von Julie Vellay. Und letzten Endes fand er dort eine Natur vor, die seinem Charakter entsprach. Dieser Natur huldigte Pissarro in bewundernswerten Werken. Aber Landschafts-maler bleiben einem Ort selten treu. Pissarros Suche nach der Umgebung, die seinem Ausdrucksbedürfnis am besten entsprechen würde, führte ihn 1868 in das näher bei Paris gelegene Louveciennes. In diesem Städtchen, in dem sich auch Sisley und die Eltern Renoirs niedergelassen hatten, bezog er ein Haus an der Straße nach Saint-Germain. Die Mäander der Seine, ihre Inseln, die Dörfer Bougival, Marly, Argenteuil – die ganze Gegend, die die künftigen Impressionisten so sehr ins Herz geschlossen hatten, sie wurde auch für Pissarro zur künstlerischen Heimat. Wie die anderen arbeitete er mit Begeisterung im Freien. Seine Palette verlor dabei nach und nach die düsteren Töne, die Zola aufgefallen waren; seine Farben wurden heller und freundlicher.
Madame Pissarro neben einem Fenster, nähend, um 1877
Öl auf Leinwand, 54 x 45 cm. Ashmolean Museum of Art and Archaeology, University of Oxford, Oxford
Waldrand bei Hermitage, Pontoise, 1879
Öl auf Leinwand, 125 x 163 cm. The Cleveland Museum of Art, Cleveland
Als dänischer Staatsbürger wurde Pissarro während des Krieges gegen Preußen nicht eingezogen. Als die preußischen Armeen sich Louveciennes näherten, floh er mit seiner Familie in die Bretagne, wo sein Freund Piette einen Bauernhof besaß. Bei dem überstürzten Aufbruch ließ er nicht nur seine eigenen Werke zurück, sondern auch Bilder, die Monet bei ihm untergestellt hatte. Die preußischen Soldaten, die sich in seinem Haus niederließen, zerstörten etwa 150 von ihnen: Sie warfen sie auf die vom Regen aufgeweichten Gartenwege, um sich die Stiefel nicht schmutzig zu machen. Währenddessen wälzte sich der Flüchtlingsstrom über den Ärmelkanal weiter nach London; Pissarros Mutter schloss sich an, seine Cousine wohnte bereits dort. Auch Pissarro verlegte seinen Hausstand dorthin und arbeitete in London weiter, wenn auch weniger intensiv. Claude Monet und Paul Durand-Ruel hatten ebenfalls in London Quartier bezogen, und von dem Kritiker Théodore Duret (1838-1927) kam die Nachricht, dass Paris von der Commune in Schutt und Asche gelegt werde und dass er selbst einzig davon träume, so schnell wie möglich nach London zu gelangen. Pissarro jedoch hegte ganz entgegengesetzte Hoffnungen. Er erwiderte Duret:
Ich werde nicht hier bleiben. Erst im Ausland spürt man, wie schön, wie groß, wie gastfreundlich Frankreich ist. Wie anders ist das alles hier! Man bekommt nur Missachtung, Gleichgültigkeit, selbst Grobheit zu spüren, und bei den Kollegen Neid und den egoistischsten Argwohn. […] Von Durand-Ruel einmal abgesehen, der mir zwei kleine Bilder abgekauft hat, kommt meine Malerei hier gar nicht an, überhaupt nicht. So geht es mir hier überall. […] Vielleicht bin ich bald schon zurück in Louveciennes. Ich habe dort alles verloren, mir bleiben vielleicht vierzig Bilder von 1500. Was zum Teufel haben sie bloß damit gemacht? […] Kriegsleute!
Bei seiner Rückkehr nach Frankreich zog Pissarro nach Pontoise. Die ganze Gegend um dieses etwas abseits von Paris gelegene Städtchen war bereits von Künstlern bevölkert: In Valmondois, ganz in der Nähe von Pontoise, hatte Honoré Daumier (1808-1879) ein Haus, und in dem Dörfchen Auvers wohnte der von Pissarro hochgeschätzte Daubigny, dessen Freund Corot sich oft hier blicken ließ – auf beide Maler hielt Pissarro große Stücke.
Der Arzt Paul-Ferdinand Gachet (1828-1909), der die Maler behandelte, in ihren Cafés verkehrte und ihre Bilder kaufte, wohnte ebenfalls in Auvers. Hier ließ sich in den siebziger Jahren auch ein dreißigjähriger Südfranzose nieder: Paul Cézanne, mit dem zusammen Pissarro im Freien malte. Pissarro war von geselligem Wesen und überaus hilfsbereit. So war es auch nicht verwunderlich, dass sich Cézanne bei ihm in Pontoise ganz wie zu Hause fühlte. Wenn Pissarro in Paris weilte, hielten sein ältester Sohn Lucien und Cézanne ihn gemeinsam über das Familienleben in Pontoise auf dem Laufenden. Von Pissarro übernahm Cézanne die Kunst, mit den drei Grundfarben und ihren Abtönungen auszukommen, was seine Palette bedeutend aufhellte. Pissarro hatte ein ausgezeichnetes Auge für fremde Begabungen. Er setzte Théodore Duret von den „eigenwilligen Studien und dem einzigartigen Auge“ Cézannes in Kenntnis, dessen kraftvolle Gemälde alle seine Hoffnungen übersteigen würden. Maler, die ihm erst skeptisch gegenüber gestanden hatten, begann Cézanne während seines Aufenthalts in Pontoise immer nachhaltiger zu überzeugen. Von Pissarro sagte er später: „Er war ein Vater für mich, er war ein Mann, den man befragen konnte, und etwas ähnliches wie der liebe Gott.“ Ab 1879 stellte sich ein anderer Gast häufig bei der Familie Pissarro ein: Paul Gauguin (1848-1903), der damals Kunst sammelte und als Maler noch ein Anfänger war. Auch er sollte nie vergessen, was er bei Pissarro gelernt hatte. Noch wenige Monate vor seinem Tod bekannte Gauguin: „Es war einer meiner Lehrmeister, ich leugne es nicht.“
In der Umgebung von Pontoise und Auvers malte Pissarro unablässig Wiesen und Äcker; schlichte, anspruchslose Motive, die er meist mit der Arbeit der Landbevölkerung in Zusammenhang setzte. Er pflegte zu sagen, dass er die Natur „nackt“ zu malen liebe. Im Jahr der ersten Impressionisten-Ausstellung hatte Pissarro sich vom Einfluss Corots noch nicht ganz befreit. Seine Malerei war damals noch recht monoton.
Junge Bäuerin, ihren Milchkaffee trinkend, 1881
Öl auf Leinwand, 65,3 x 54,8 cm. Sammlung Potter Palmer, Art Institute of Chicago, Chicago
Im Garten in Pontoise: Eine junge Frau spült Geschirr, 1882
Öl auf Leinwand, 85 x 65,7 cm. The Fitzwilliam Museum, University of Cambridge, Cambridge
Der Marktplatz, 1882
Gouache auf Papier, 80,6 x 64,8 cm. Privatsamlung, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von The Metropolitan Museum of Art, New York
Der Geflügelmarkt in Pontoise, 1882
Öl auf Leinwand, 81 x 65,1 cm. Norton Simon Art Foundation, Pasadena
Der Quai de Paris und die Brücke Corneille bei Sonnenlicht, 1883
Öl auf Leinwand, 54,3 x 64,5 cm. Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
In Das gepflügte Feld werden die Rosa- und Brauntöne nur selten von grünen Einsprengseln durchbrochen. Die Komposition des Gemäldes verrät den Einfluss von Daubigny, der seine Landschaften ebenfalls in parallelen Segmenten vom unteren Rand der Leinwand her aufbaute. So ist auch die vermutlich schon zu Beginn der siebziger Jahre entstandene Landschaft bei Louveciennes komponiert, von der man ursprünglich meinte, sie sei in der Umgebung von Pontoise gemalt worden: Die parallel angeordneten Ebenen unterstreichen den Rhythmus der Baumstämme, die parallel zum unteren Rand der Leinwand das Gemälde gliedern. Die Farbtöne sind hier noch überwiegend dem dunklen Spektrum entnommen, ähnlich dem Bild, das Zola zu der Prophezeiung veranlasst hatte, dieser Maler habe keine Aussichten, dem Publikum zu gefallen. Tatsächlich ist von der Poesie des Landlebens, von idyllischer Natur abseits des städtischen Treibens, hier keine Spur zu finden. Pissarro malt den monotonen Alltag der Menschen inmitten einer ihnen vertrauten, banal anmutenden Natur. Noch prosaischer ist das Gemälde Der Waschplatz in Bougival (früher Waschplatz in Pontoise: Es zeigt nicht nur sitzende Wäscherinnen bei ihrer täglichen Arbeit, sondern auch noch eine kleine Fabrik mit einem rauchenden Schornstein, die aus dem malerischen Seineufer herauszuwachsen scheint. Noch früher, wohl 1869 oder 1870, hatte Pissarro romantischen Waldwegen und poetischen Wasserspiegeln die Hinterhöfe und Gemüsebeete von Louveciennes vorgezogen (Landschaft bei Louveciennes im Herbst).
Die erste Ausstellung der Impressionisten, die 1874 in Nadars (1820-1910) Atelier stattfand, zeigte eines der bisher besten Landschaftsbilder Pissarros: Raureif. Auf diesem Gemälde sieht man einen gleichmäßig ansteigenden, sanften Abhang, der mit kleinen, verwachsenen Bäumen bestanden ist, und eine gebeugte menschliche Gestalt, die ein Bündel Holz schleppt. Das ist schon alles. Aber gerade in der Gestaltung dieses unscheinbaren Motivs offenbart sich Pissarros Größe. Die Himmel und Erde verbindende Skala von Goldtönen ruft den Eindruck eines sanft strahlenden Sonnenlichts hervor, das der am frühen Morgen noch herrschende Frost in einen weißlichen Schleier hüllt. Vor Monet und Sisley malt Pissarro hier eine Landschaft, von der der Betrachter spürt, dass sie im nächsten Moment eine andere werden wird. Die horizontal gestaffelten Ebenen kreuzt diagonal der Schatten von Pappeln, die selbst nicht auf dem Bild zu sehen sind. Wie bei Manet wird der Betrachter durch den Aufbau des Werks selbst in seine Komposition einbezogen.
Immer wieder, zumal in seinen Schneelandschaften (Die Garenne bei Pontoise), thematisiert Pissarro die Atmosphäre der Landschaften, die er malt. Er entwickelt dabei eine eigene Sicht der Natur, die ihn von allen anderen Impressionisten unterscheidet.
Schon im Jahr 1873, also noch vor ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung, hat der Kritiker Paul-Armand Silvestre (1837-1901), hellsichtig genug, diese Eigenart Pissarros benannt: Zwar sei „auf den ersten Blick schwer zu sehen, was die Malerei des Monsieur Monet von der des Monsieur Sisley unterscheidet, und inwiefern diese wiederum anders ist als die des Monsieur Pissarro“, dieser aber sei von allen „der realste und unbefangenste“.
Bei Pissarro lösen die Gegenstände sich nicht in flimmernder Atmosphäre und leuchtenden Farbtupfern auf. Die auf seiner Anhöhe an der Hermitage, Pontoise dargestellten Häuser sind aus rohen Steinen gemauert, sie wirken geradezu, als könne man sie berühren. Der Bergweg, Rue de la Côte-du-Jalet, Pontoise zeigt am Abhang eines Hügels aufgeschichtete Häuschen, deren klare geometrische Konturen fast den Kubismus vorwegnehmen. Und das berühmte Bild Die roten Dächer schafft mit den Schatten von Baumstämmen und den Volumen der Häuser mit ihren roten Dächern beim Betrachter fast den Eindruck, als stehe er vor einem Relief.
Pissarro war davon überzeugt, dass er mit seinen Malerfreunden gemeinsam den „Durchbruch“ versuchen müsse. Unter den künftigen Impressionisten war er zweifellos der entschlossenste. Er schrieb im Februar 1873 an den Kritiker Théodore Duret:
Sie haben Recht, mein Lieber, wir brechen uns langsam Bahn. Wir werden von manchem Meister angefochten, aber muss man mit solchen Meinungsverschiedenheiten nicht rechnen, wenn man als Eindringling sein bescheidenes Fähnlein im Getümmel pflanzen will? […] Wir hoffen voranzukommen, ohne uns um andere Meinungen zu kümmern.
Der Marktstand, 1884
Tempera und Aquarell über schwarzer Kreide auf Tafel, 61 x 48,3 cm. Sammlung Burrell, Glasgow
Geflügelmarkt in Gisors, 1885
Gouache und schwarze Kreide auf braunem. Papier auf Leinwand, 82 x 82 cm. Museum of Fine Arts, Boston
Der Markt in Gisors, 1887
Schwarze Tusche, Gouache und Aquarell mit Bleiweiß auf Papier, 31 x 24 cm. Columbus Museum of Art, Columbus (Ohio)
Der Markt in Gisors, 1887
Aquarell auf cremefarbenem Papier, 31,4 x 24 cm. Museum of Fine Arts, Boston
Die Ährenleserinnen, 1889
Öl auf Leinwand, 65,4 x 81,1 cm. Dauerleihgabe der Dr. h. c. Emile Dreyfus-Stiftung, Kunstmuseum Basel, Basel
Im folgenden Jahr beteiligt Pissarro sich aktiv an der Organisation der ersten Ausstellung der Impressionisten. Dabei besteht er auf der Notwendigkeit, einen Verein zu gründen und schlägt als Modell dafür die Satzung der Bäckervereinigung vor, die er in Pontoise kennengelernt hatte. Er will auch ein System einführen, das jedem Maler einen guten Platz für seine Bilder sichern soll: Das Los soll darüber entscheiden, wo welches Bild aufgehängt wird. Indes kommen Pissarros Vorstellungen nicht zum Zuge, weil sie den anderen Malern als allzu radikal erschienen. Pissarros Positionen erklären sich aus den von ihm stets sehr ernst genommenen sozialen Seiten des Lebens. Da er unaufhörlich arbeitete und trotzdem arm blieb, fühlte er sich den Bauern nahe, die er in Pontoise und den umliegenden Dörfern auf ihren Äckern rackern sah. Dies erklärt auch in hohem Maße, dass er als einziger aus der Impressionistengruppe die ländlichen Motive eines Millet aufgriff und weiterführte. Oft zeigen seine Landschaften arbeitende oder ruhende Bauern. Sein Freund Théodore Duret teilte ihm 1873 mit, dass er seine Landschaft mit drei Eseln und einem Stall gekauft habe, und zwar nicht aus irgendwelchen Stilerwägungen heraus, sondern weil dieses Bild durch die Kraft des Gefühls, das in ihm zum Ausdruck komme, ebenso wundervoll sei wie ein Bild von Millet. Dieser Vergleich ist nicht unberechtigt. Tatsächlich hatte Pissarro ernsthaft die Absicht, sich der Genremalerei zuzuwenden. 1874 kündigt er Duret an, er werde den Wald, in dem er seit einem Monat weilte, verlassen und nach Pontoise zurückkehren, um wieder Menschen und Tiere darstellen und Genrebilder malen zu können. Aber die Genremalerei macht ihn unsicher, denn seit seiner Jugend hat er sich in der Landschaftsmalerei umgetan, und das ist auch die Domäne, die ihn am meisten mit seinen Freunden verbindet.
Auch die geistigen Interessen Pissarros sind von seinem sozialen Engagement geprägt. Eine Zeit lang interessiert er sich für anarchistische Gesellschaftstheorien; im Jahr 1892 berichtet er über seine Lektüre von Pjotr Alexejewitsch Kropotkins (1842-1921) Brot und Freiheit und bedauert, dass dieser wundervolle Traum wohl Utopie bleiben müsse. Sind aber nicht auch schon Utopien Wirklichkeit geworden? Muss der Anarchismus sich nicht durchsetzen, wenn die Menschheit nicht ganz der Barbarei anheim fallen will? Pissarro möchte es wohl glauben. Nur die Kunsttheorie Kropotkins, der zufolge das Leben der Bauern teilen muss, wer sie verstehen will, kann er nicht akzeptieren. Für ihn genügt es, von seinem Gegenstand begeistert zu sein, und dazu brauche man nicht Bauer zu sein – Künstler zu sein genüge ihm vollauf.
Bis zum Jahr 1886 war Pissarro bei jeder der von den Impressionisten mit ihren eigenen Werken bestrittenen Ausstellungen mit Dutzenden seiner Landschaftsbilder vertreten. Er war der einzige, der an allen acht Ausstellungen teilnahm, sich damit aber der Chance begab, seine Werke auf dem Salon auszustellen. Seine Landschaften zeigen Blumenfelder und gepflügte Äcker, nackte Äste im Winter, blühende Apfelbäume, rosafarbenes Licht und blaue Schatten auf dem Schnee. Vor allem die Straße nach Ennery bei Pontoise erinnert an Silvestres Bemerkung über Pissarros Unbefangenheit: Sanfte Hügel, wie Pissarro sie zu malen liebte, werden von Feldwegen durchzogen; auf ihnen ziehen kleine Gestalten dahin: zwei Reisende in einer Kutsche, ein Bauer mit einem Sack auf den Schultern, zwei Frauen mit Hüten. Eine zugleich reale und kindliche Welt, nicht unähnlich der naiven Malerei.
Pissarro liebte Paris sehr und fuhr hin, so oft er nur konnte, aber seine Armut und seine Arbeit an ländlichen Motiven hielten ihn mit seiner Familie – er hatte sechs Kinder, von denen eins früh starb – auf dem Land zurück. Hier war das Leben billiger, und seine Frau konnte durch den Anbau von Gemüse und das Halten von Hühnern und Kaninchen zum Lebensunterhalt beitragen. Trotz seiner ländlichen Isolierung blieb der Maler für seine Freunde der „Vater Pissarro“, an den sich stets wenden konnte, wer Hilfe brauchte.
Auf einen „netten, traurigen Brief“, den Monet ihm nach Pontoise schickte, weil er keine Abnehmer für seine Bilder fand, erwiderte Pissarro, er werde ihm mit Freuden helfen, sobald sich eine gute Gelegenheit biete; allerdings sei „sein Fleck Erde klein und sein Bettelsack leer“. Er war so leer, dass die Pissarros 1882 noch weiter weg ziehen mussten: in Osny, einem drei Kilometer von Pontoise gelegenen Dörflein, waren die Lebensbedingungen noch einfacher. Hier gelang es ihm, seine prekäre finanzielle Lage mehr oder weniger zu stabilisieren. „Ich erfreue mich mäßiger, aber regelmäßiger Verkäufe“, teilte er Duret mit. In der Hoffnung auf neue Motive leistete er sich im Herbst sogar eine Reise in das Burgund:
Alte Türme, Kirchen, alte Häuser mit romantischem Flair – das alles müsste unserem schönen, modernen Blick gut zu Gesicht stehen.
Bäuerinnen, Stäbe in den Boden steckend, 1891
Öl auf Leinwand, 55 x 46 cm. Graves Gallery, Museums Sheffield, Sheffield
Der Marktplatz, Gisors, 1891
Gouache über Spuren von Kohle auf Stoff auf dünnem Karton, 35,6 x 26 cm. Sammlung Louis E. Stern, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
Heumacher, sich ausruhend, 1891
Öl auf Leinwand, 65,4 x 81,3 cm. McNay Art Museum, San Antonio (Texas)
Danach aber, 1884, zog er mit seiner Familie noch weiter nördlich nach Éragny am Flüsschen Epte, demselben, an dessen Mündung Monets Giverny liegt. Hier bezog er ein schlichtes, aber geräumiges Bauernhaus am Flussufer mit Blick auf den Nachbarort Bazincourt. Was die Wiesen von Giverny für Claude Monet bedeuteten, das wurde Éragnys Hügellandschaft mit ihren sanften Hängen für Pissarro: sein „Atelier“. Wie alle Impressionisten arbeitete Pissarro auch bei Regen und Eis mit Selbstverleugnung im Freien. Daher kann ihm selbst ein katastrophaler Witterungsumschwung zur Freude gereichen: „Ich werde meine beiden Bilder nicht fertig malen können, weil sich kein Raureif einstellt“, schrieb er zum Beispiel eines Tages an Durand-Ruel, „dafür haben wir die schönsten Überschwemmungen, aber leider nur vorübergehend!“
Von Zeit zu Zeit begab Pissarro sich nach London, Brüssel oder Rouen, damals eine sehr belebte Hafenstadt. Hier hielt er sich 1883 zum ersten Mal auf, und 1896 kam er mehrmals wieder, um im Hôtel d’Angleterre Quartier zu beziehen. Von seinem Zimmer im Zwischengeschoss aus hatte er, wie er seinem Sohn berichtete, einen herrlichen Ausblick. Im Februar dieses Jahres fiel ihm besonders die Boïeldieu-Brücke, auch Große Brücke genannt, ins Auge. „Ich interessiere mich insbesondere für das Motiv einer Eisenbrücke bei feuchtem Wetter mit viel Verkehr, Wagen, Fußgängern, Arbeitern auf den Kais, Schiffen, Qualm, Dunst in der Ferne, das Ganze sehr belebt und rege“, erklärte er. „Der Hafen von Rouen schwirrt wie ein Bienenkorb, und dieses Treiben wollte ich wiedergeben.“ Punkt für Punkt formuliert dieser Brief das Programm für die Darstellung von Stadtlandschaften, das Pissarro am Ende seines Lebens umsetzen wird. Von seinem Fenster im Hôtel d’Angleterre aus hatte er den besten Blick auf die große Brücke, deren Motiv ihn begeisterte. Seinem Sohn Lucien berichtet er:
Von meinem Fenster aus habe ich ein Motiv, das neue Viertel Saint-Sever gerade gegenüber, mit der nagelneuen, glänzenden, grässlichen Gare d’Orléans und einem Haufen Schloten, riesigen und winzigen, samt ihrem Qualm. Im Vordergrund Schiffe im Wasser, links vom Bahnhof erstreckt sich das Arbeiterviertel die Kais entlang bis zur Eisenbrücke, bis zum Pont Boïeldieu; es ist Morgen, dünnes, dunstiges Sonnenlicht.
Pissarro lässt ahnen, wie sehr es ihn reizt, die in diesen Notizen eingefangene Atmosphäre eines Wintertags mit künstlerischen Mitteln zu reproduzieren:
Das ist schön wie Venedig […] von außerordentlichem Charakter. […] Das ist Kunst, durch meine eigenen Empfindungen wahrgenommen. Es gibt nicht nur dieses Motiv, links und rechts sind andere Wunder.
Pissarros Einstellung gegenüber seinem Motiv blieb, welches immer er auch wählte, impressionistisch. Das Wetter spielte eine wichtige Rolle: „Die Sonne! Ein seltener Gast in diesem Moment; die Bilder, die ich in diesem Licht begonnen habe, mussten in die Kiste, bis es sich wieder aufhellt, aber die Regeneffekte lassen nicht auf sich warten“, schreibt er aus Rouen. „Es kommt sogar vor, dass ich meine Fenster schließen muss!“ Eine Landschaft von einem Fenster aus malen heißt für einen Impressionisten nun einmal: im Freien arbeiten.
Pissarro lernte Georges Seurat (1859-1891) und Paul Signac (1863-1935) im Jahr 1885 kennen und schloss sich mit seinem Sohn Lucien vorübergehend der „neoimpressionistischen“, „pointillistischen“ Tendenz an: Vater und Sohn begannen nun auch, kleine Farbtupfer nebeneinander zu setzen. Pissarro war ein emotionaler Mensch, sein Temperament hielt ihn zeitlebens jung. Es war daher kein Wunder, dass er sich von Seurats originellem Umgang mit der klassischen Kunst und der Farbenlehre mitreißen ließ. Auf diese Weise schuf sein Pinsel eine ganze Reihe pointillistischer Werke in der Manier eines Seurat oder Signac. Ab 1888 begann er jedoch, Signac vor einer blinden Anwendung der pointillistischen Methode zu warnen und ihm zu raten, seinem künstlerischen Gespür mehr Vertrauen zu schenken. Es ist bezeichnend für „Vater Pissarro“, dass er sich zu diesem Ratschlag verpflichtet glaubte, obwohl ihm klar war, dass Signac zwar wichtige Fragen aufgeworfen hatte, aber von dem System nicht abzubringen sein würde, mit dessen Hilfe er sie zu lösen gedachte. Für sich selbst gelangte Pissarro zu dem Schluss, dass der Pointillismus darauf hinauslief, den Eindruck lebloser Monotonie zu erwecken. Er stellte die Kreation über die Theorie und wandte sich folglich vom Pointillismus wieder ab.
Markt in Pontoise, 1895
Öl auf Leinwand, 46,4 x 38,4 cm. The Nelson-Atkins Museum of Art, Kansas City
Die Brücke Boïeldieu in Rouen bei Regenwetter, 1896
Öl auf Leinwand, 73,6 x 91,4 cm. Art Gallery of Ontario, Toronto
Die Brücke Corneille in Rouen, Morgennebel, 1896
Öl auf Leinwand, 73 x 92 cm. Privatsammlung, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Galerie Didier Imbert, Paris
Die Brücke Boïeldieu in Rouen, Sonnenuntergang, 1896
Öl auf Leinwand, 74,2 x 92,5 cm. Birmingham Museums and Art Gallery, Birmingham
In den neunziger Jahren musste Pissarro seine Arbeit in Éragny aufgeben, weil eine Augenkrankheit es ihm unmöglich machte, weiterhin im Freien zu malen. In Paris kam derweil die japanische Kunst in Mode, die als dekoratives Element in den Jugendstil Eingang fand; eine Ausstellung Utagawa Hiroshiges (1797-1858) machte hier 1893 Furore. Um Geld zu verdienen, fertigte auch Pissarro nun Stiche in japanischer Manier an und bemalte sogar Fächer, die allerdings unerwartete Motive aufweisen konnten: wie er seinem Sohn Lucien erzählt, zeigt einer von ihnen eine rote Sonne, einen perlgrauen Dunststreif und mitten darin die Umrisse von – Kühen.
Damals begann Pissarro auch, Pariser Stadtlandschaften zu malen. Die Ärzte hatten ihm geraten, seine Augen vor Wind zu schützen, daher mietete er jeweils für einen Tag ein Zimmer hoch oben über der Stadt, möglichst eine Mansarde, von wo aus er zwar keine Einzelheiten wahrnehmen konnte, aber ein treffliches Panorama hatte und den Puls der Stadt spüren konnte – eine Perspektive, wie Charles Baudelaire (1821-1867) sie sich in den Tableaux Parisiens erträumt hatte:
Ich will, um mein Gedicht auf keusche Art zu pflegen,
Wie Sternendeuter mich dem Himmel näher legen. […]
Mit aufgestütztem Kinn schau ich vom hohen Zimmer
Die laute Werkstatt, denn dort singt und lärmt es immer,
Die Schlote, Türme und die Masten weit und breit,
Den großen Himmel als den Traum der Ewigkeit.
(Die Blumen des Bösen, S. 283)
Wie schon in Rouen arbeitete Pissarro nun also am Fenster, windgeschützt und doch wie im Freien, denn er machte es sich zur Aufgabe, sein Bild in einer einzigen Sitzung zu beenden. Es war nicht das erste Mal, dass er sich dem Motiv Paris zuwandte: Schon 1878 hatte er den Boulevard de Rochechouart und die äußeren Boulevards im Schneetreiben gemalt. Nun wählte er als erstes die Gegend um den Bahnhof Gare Saint-Lazare, wo die Züge aus Éragny eintrafen (Place du Havre). Er mietete sich im Hôtel Garnier in der Rue Saint-Lazare ein, die er gleich viermal malte – der Beginn seiner Bilderserien über Pariser Stadtlandschaften. Für den Februar 1897 fasste er eine neue, reizvolle Serie ins Auge: „Ich fahre am 10. dieses Monats ab, wieder nach Paris“, schrieb er seinem Sohn Lucien.
Dieses Mal will ich eine Serie über den Boulevard des Italiens machen. Ich habe ein geräumiges Zimmer im Grand Hôtel de Russie, Rue Drouot, gebucht, von wo aus ich die Boulevards bis fast zur Porte Saint-Denis im Blick habe, jedenfalls bis zum Boulevard Bonne-Nouvelle.
Von diesem Fenster aus begann er, das lange Band der ineinander übergehenden, breiten Boulevards zu malen, wie es sich zu verschiedenen Tageszeiten und bei unterschiedlichem Wetter ausnimmt. Er bekam Lust, die Menge auch einmal an einem Festtag zu sehen, wenn sie der Stadtlandschaft einen anderen Rhythmus aufprägt und sie mit frischen Farben belebt. „Ich habe mich eingerichtet und bin dabei, mehrere große Leinwände vollzumalen“, schrieb er einige Tage später.
Ich versuche, eine oder zwei vorzubereiten, die die Menge am Faschingsdienstag festhalten sollen. Ich weiß noch nicht, was das geben wird; ich fürchte sehr, die Papierschlangen werden mich stören.
Die Brücke Boïeldieu in Rouen am Morgen, feuchtes Wetter, 1896
Öl auf Leinwand, 54,3 x 65,1 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York
Die Brücke Corneille in Rouen bei trübem Wetter, 1896
Öl auf Leinwand, 66,1 x 91,5 cm. National Gallery of Canada, Ottawa
Boulevard Montmartre, Faschingsdienstag, 1897
Öl auf Leinwand, 63,5 x 77,5 cm. Hammer Museum, Los Angeles
Der Boulevard des Italiens bei Sonnenschein am Morgen, 1897
Öl auf Leinwand, 73,2 x 92,1 cm. National Gallery of Art, Washington, D.C.
Mardi Gras, Sonnenuntergang, Boulevard Montmartre, 1897
Öl auf Leinwand, 54 x 65 cm. Kunstmuseum Winterthur, Winterthur
Die Rue de l’Épicerie in Rouen bei Sonnenschein, 1898
Öl auf Leinwand, 81,3 x 65,1 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York
Avenue de l’Opéra, sonniger Morgen im Winter, 1898
Öl auf Leinwand, 73 x 91,8 cm. Musée des Beaux-Arts de Reims, Reims
Blick auf die Große Brücke zu Rouen bei Regenstimmung, 1898
Öl auf Leinwand, 73 x 92 cm. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Karlsruhe
Place du Théâtre Français bei Sonnenschein, 1898
Öl auf Leinwand, 75 x 94 cm. Narodni Muzej, Belgrad
Die Rue de l’Épicerie in Rouen am Morgen, graues Wetter, 1898
Öl auf Leinwand, 81 x 65 cm. Privatsammlung
Place du Théâtre Français, 1898
Öl auf Leinwand, 72,4 x 92,6 cm. Sammlung von Hr. und Fr. George Gard De Sylva, Los Angeles County Museum of Art, Los Angeles
Die Brücke Boïeldieu und der Bahnhof Gare d’Orléans in Rouen, 5 Uhr morgens, 1898
Öl auf Leinwand, 64,4 x 80,5 cm. Privatsammlung. c/o Christie’s
Der Quai de la Bourse in Rouen bei Regen, 1898
Öl auf Leinwand, 54 x 65 cm. Musée d’Art et d’Histoire de Genève, Genf
Pissarro pflegte immer eine Leinwand mit den Umrissen der Boulevards vorzubereiten, damit er sie zur Hand hatte, wenn es galt, einen bestimmten Moment festzuhalten. Insgesamt entstanden auf diese Weise wohl an die fünfzehn Varianten des Boulevard Montmartre. Auf einigen ist der Alltagsboulevard zu sehen, wie er sich werktags darbietet, wenn über ihn die Wagen strömen und die Menschenmenge auf den Bürgersteigen dahinzieht (Boulevard Montmartre in Paris). Auf anderen ist der ganze Boulevard in die Farbenpracht eines Karnevalsumzugs getaucht (Boulevard Montmartre, Faschingsdienstag).
Ich habe eine Menge Sachen in Arbeit. Am Faschingsdienstag habe ich den Boulevard mit der Menge und dem Zug des Faschingsochsen gemacht, mit Sonnenlichteffekten auf den Papierschlangen und auf den Bäumen, die Menge im Schatten.
In dieser Serie entwickelte Pissarro das Bild des neuen, von Georges-Eugène Haussmann (1809-1891) modernisierten Paris weiter, das Monet mit seinem Boulevard des Capucines (1873) als erster Impressionist gemalt hatte.
Er wechselte die Hotels und die Wohnungen, aber sein Motiv blieb immer das Paris Haussmanns. 1898 teilte er seinem Sohn mit:
Ich habe vergessen dir anzukündigen, dass ich ein Zimmer im Grand-Hôtel du Louvre mit einem herrlichen Blick auf die Avenue de l’Opéra und die Ecke der Place du Palais-Royal gefunden habe. Das ist sehr schön zu machen! Es ist vielleicht nicht sehr ästhetisch, aber ich bin davon entzückt, diese Pariser Straßen machen zu können, die man gewöhnlich hässlich schimpft, die aber so silbern schimmern, so leuchten und so belebt sind. Ganz anders als die Boulevards. Absolut modern!
Er blieb bei seiner Methode, die Umrisse des geplanten Motivs vorzubereiten und dann den rechten Moment für das Malen abzupassen. „Seit gestern habe ich mich hier eingerichtet“, fährt er in dem zitierten Brief fort.
Ich habe zwei große Zimmer und zwei gute, große Fenster, von denen aus ich die Avenue de l’Opéra im Auge habe. Das Motiv ist sehr schön, sehr malerisch. Ich habe schon zwei Leinwände begonnen.
Die Vogelperspektive auf die Stadt bringt Konsequenzen für die Komposition eines Bildes mit sich. Wenn Pissarro eine Straße malte, die geradeaus führt, blieb die Perspektive klassisch und linear (Avenue de l’Opéra, sonniger Morgen im Winter). Wenn er aber die Place du Théâtre Français von seiner Mansarde herab malen wollte, füllte dieser Platz die ganze Leinwand bis zum oberen Rand aus, ohne auch nur ein Fleckchen für den Himmel übrig zu lassen. Aus dieser Perspektive ist der Platz mit kleinen Männer- und Frauengestalten übersät, wie man ihnen zuweilen bei Pieter Brueghel dem Älteren (1525/1530-1569) begegnet. Oft nur aus zwei oder drei wie zufällig auf die Leinwand getupften Farbklecksen bestehend, bewegen sie sich doch alle in einer für Fußgänger typischen Art: Sie wimmeln auf dem Platz und in dessen Umgebung herum, laufen über die Straße, besteigen Verkehrsmittel (Place du Théâtre Français). Von hoch oben stellt Pissarro den Verkehr in der Stadt und seinen Rhythmus mit derselben Sensibilität dar, mit der Monet atmosphärische Veränderungen registrierte. Die Bahnhöfe und Kathedralen Monets werden in den Ausstellungen von den Stadtbilderserien Pissarros – zwölf Passagen und sieben oder acht Boulevards – abgelöst.
Entladen von Holz am Quai de la Bourse bei Sonnenuntergang, 1898
Öl auf Leinwand, 54 x 66 cm. Privatsammlung
Der Quai de la Bourse in Rouen bei Sonnenuntergang, 1898
Öl auf Leinwand, 54 x 65 cm. Sammlung Linda Gale Sampson
Die Tuilerien bei Regen, 1899
Öl auf Leinwand, 65 x 92 cm. Ashmolean Museum of Art and Archaeology, University of Oxford, Oxford
Jeanne Pissarro, genannt Cocotte, lesend, 1899
Öl auf Leinwand, 56 x 67 cm. Sammlung von Ann und Gordon Getty
Der Jahrmarkt in Dieppe, sonniger Nachmittag, 1901
Öl auf Leinwand, 73,5 x 92,1 cm. Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
Der Außenhafen von Dieppe bei Sonnenschein am Nachmittag, 1902
Öl auf Leinwand, 53,3 x 65 cm. Château-musée de Dieppe, Dieppe
Der Außenhafen von Dieppe am Nachmittag bei hellem Wetter, 1902
Öl auf Leinwand, 54 x 65 cm, Privatsammlung
Der Außenhafen von Dieppe bei trübem Wetter und Sonnenschein, 1902
Öl auf Leinwand, 60 x 73 cm, Privatsammlung, Schweiz
Pferde und Karren vor dem Hafenbecken in Dieppe bei Niedrigwasser, 1902
Öl auf Leinwand, 54,9 x 65,1 cm. Privatsammlung
Der Außenhafen von Dieppe am Morgen bei trübem Wetter, 1902
Öl auf Leinwand, 46,7 x 55,2 cm. Fine Arts Museums of San Francisco, San Francisco
Hafenbecken in Dieppe bei trübem Wetter und Regen, 1902
Öl auf Leinwand, 52,1 x 64,8 cm. Worcester Art Museum, Worcester (Massachusetts)
Hafenbecken in Dieppe bei Niedrigwasser, 1902
Öl auf Leinwand, 65,7 x 81,3 cm. Musée des Beaux-Arts, Montréal
Der Außenhafen von Le Havre in der Morgensonne, 1903
Öl auf Leinwand, 54,5 x 65 cm. Musée d’art moderne André Malraux, Le Havre
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts malte Pissarro – wie immer von einer Mansarde aus – eine Bilderserie mit dem Motiv der Tuilerien. Auf einem dieser Bilder ist hinter dem Garten und der Seine der noch im Bau befindliche Bahnhof Gare d’Orsay auszumachen. Mit diesen Bildern war Pissarro selbst nicht mehr zufrieden. Seinem Freund Claude Monet gestand er, diejenigen, die seine Ansichten von den Tuilerien lobten, seien zu nachsichtig mit ihm: „Ich bin nicht zufrieden damit. Ich habe wenig gearbeitet. Ich kämpfe gegen das Alter.“ Im Jahr 1901 arbeitet Pissarro in Dieppe. In dieser alten Hafenstadt findet er die Natur, die er braucht: das Treiben einer bunten Menge auf einem Jahrmarkt zu Füßen einer riesigen gotischen Kirche (Der Jahrmarkt in Dieppe, sonniger Nachmittag). Im Juli 1903 weilt er im Hôtel Saint-Siméon in der Normandie, eben dort, wo früher das Gehöft stand, bei dem Courbet, Daubigny, Jongkind, Boudin und Monet sich getroffen hatten. Das allzu hübsch gewordene Städtchen Honfleur enttäuscht Pissarro: Die neuen, eleganten Villen, die wohlgepflegten, „gestriegelten“ Alleen haben die Landschaft verdorben. Nur von Le Havre fühlt er sich inspiriert. Der alte, weise gewordene Impressionist interessiert sich nicht mehr für Einzelheiten, er sucht das Wesentliche zu erfassen, worauf er es ein ganzes Malerleben lang abgesehen hat:
Ich sehe nur Flecken. Wenn ich mit einem Bild anfange, ist das erste, was ich festzuhalten suche, der Einklang. Zwischen diesem Himmel und diesem Stück Erde und diesem Wasser gibt es notwendigerweise einen Einklang, und das ist die große Schwierigkeit in der Malerei. […] Die große Aufgabe, die es zu lösen gilt, besteht darin, alles, noch die kleinsten Einzelheiten des Bildes, auf die Gesamtharmonie zurückzuführen, das heißt auf den Einklang.
Seine letzte Wohnung bezog Pissarro am Quai Voltaire in Paris. Seine letzten Landschaftsbilder geben den Blick auf den leicht bogenförmig gekrümmten Kai der Seine, auf die Kuppel des Institut de France und die Auslagen der Bouquinisten wieder, den er von dort aus hatte. Pissarro starb am 13. November 1903.
Er war ein großer Arbeiter gewesen. Octave Mirbeau (1848-1917) sagte über Pissarro, er sei während seiner 73 Lebensjahre schlicht deswegen glücklich gewesen, weil er einer großen und edlen Leidenschaft frönte: der Arbeit. Mit heiterem Lächeln hatte er selbst Mirbeau gestanden, die Arbeit sei seiner geistigen und körperlichen Gesundheit überaus zuträglich, beim Arbeiten vergesse er alle Sorgen, alle Qualen. Seine Bilder verkauften sich ebenso schlecht wie die der anderen Impressionisten. Aber so schwer sein Leben auch war, seinen Freunden hielt er die Treue. Er freute sich über den Erfolg Renoirs, wenn seine Bilder auf den Salons Beifall fanden. Er betrauerte den Tod Berthe Morisots (1841-1895), auf deren Begabung er große Stücke hielt und die, so unbekannt sie zu Lebzeiten dem Großteil des Publikums auch blieb, die Impressionistengruppe (wie Pissarro sich ausdrückte) „durch ihren weiblichen Charme verschönert“ hatte. Bis an das Ende seines Lebens blieb Pissarro ein kritischer Beobachter des öffentlichen Lebens. Für den bewunderten Zola setzte er sich gemeinsam mit Claude Monet, Octave Mirbeau und anderen ein, als ihm der Prozess gemacht werden sollte. Er selbst bekam selten Schmeichelhaftes über sich zu hören: mit Sisley zusammen wurde er gewöhnlich nur unter der Rubrik „Landschaftsmaler“ kurz erwähnt, was ihn nicht weiter verdross, denn er baute auf das Nachleben seiner Werke. Dass die Bilder der Impressionisten aber auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht verstanden wurden – „es muss immer noch Zeit vergehen, bis wenigstens unsere Freunde uns begreifen“, schrieb er am 22. September 1903 –, konnte er nur beklagen. Nach seinem Tod schrieb Théodore Duret, dass die Äcker Pissarros eine Seele hätten und von ihnen ein großer Reiz ausgehe, und allmählich begannen die Zeitgenossen, sich dieser Meinung anzuschließen und Pissarro den Platz einzuräumen, der ihm zukommt: Georges Lecomte (1867-1958) bezeichnet ihn als Begründer des Impressionismus, und Thadée Natanson (1868-1951) nennt ihn in der Revue blanche den „Apostel des Impressionismus“.