Obwohl der Name Camille Claudel stets mit dem Auguste Rodins in Verbindung gebracht wurde, ist es unbestreitbar, dass Claudel eine eigenständige Künstlerin war. Camilles Stärke kam von innen; sie ertrug die Wut und die Missbilligung durch die Mitglieder ihrer Familie, Rodins Weigerung, sie zu heiraten, und die Ablehnung ihrer Arbeit durch bestimmte französische Ministerien, die ihr in ihrer Willkür Aufträge verweigerten. Sie wählte ein schwieriges Medium, doch zeigen sich in ihren Skulpturen eine Sinnlichkeit, eine Liebe zum menschlichen Körper und tief gehende Emotionen, die einen Rückschluss auf ihre eigenen Gefühle im Prozess des Schaffens erlauben. Viele ihrer Werke sind verschwunden oder wurden zerstört, dennoch sind genügend erhalten geblieben, die den Wesenskern der Camille Claudel zeigen.
Camille Claudel wurde am 8. Dezember 1864 in Fère-en-Tardenois, einem Dorf in der Champagne, geboren. Die Bewohner dieser Region waren hart arbeitende Konservative, die darum bemüht waren, unter dem strengen Blick der Gesellschaft ein ehrenhaftes Leben zu führen. Die meisten verdienten ihren Lebensunterhalt als Bauern, Ladenbesitzer oder Handwerker. Ihre Eltern, Louis-Prosper und Louise-Athanaïse Cerveaux, hatten 1860 geheiratet. Louis-Prosper, der seine Schulbildung bei den Jesuiten in Straßburg erhalten hatte, arbeitete in mehreren Städten auf den Grundbuchämtern, darunter Bar-le-Duc, wo Camille ab 1870 die Schule der Sœurs de la doctrine chrétienne besuchte. Obwohl sie im Grunde der Mittelschicht angehörten, sahen sich die Claudels auf einer Stufe über dem Rest der Gemeinde. Der Vater von Louise-Athanaïse war Arzt und stellte der Familie seiner Tochter ein Haus in dem acht Kilometer von Fère-en-Tardenois entfernten Ort Villeneuve-sur-Fère zur Verfügung, in das sie vier Jahre später ziehen würde. Obwohl die Familie im Laufe der Jahre mehrere Male umzog, kam sie in den Sommern immer nach Villeneuve-sur-Fère zurück.
Camilles Schwester Louise wurde 1866, ihr Bruder Paul zwei Jahre später geboren. Paul sollte Diplomat, Dichter und der Geschwisterteil werden, an den sich Camille in Zeiten der Anspannung wenden würde. Die Beziehungen innerhalb der Familie waren oftmals angespannt und launisch. Camilles Mutter, eine hart arbeitende Frau mit strengen moralischen Vorstellungen, würde ihre Tochte später weder sehen, noch unterstützen oder mit ihr reden wollen. Unterstützt wurde Camille hauptsächlich von Männern wie ihrem Vater und Paul.
In ihrem Dorf von Handwerkern und Bauarbeitern ließen alte Feindschaften, Geschwätz und Lästerei niemals nach.
Diese kleingeistige Atmosphäre verschwand, als Camille den roten Ton für sich entdeckt hatte, der in der Gegend für die Herstellung von Dachziegeln verwendet wurde. Als sie zu verstehen begann, dass sie, indem sie ihre Finger in das Material drückte und den Stoff mit ihren Händen bearbeitete, komplexe Formen herstellen konnte, die ihre Gestalt nicht mehr veränderten, nachdem sie im familieneigenen Brennofen gehärtet worden waren, konnte nichts anderes mehr ihre Aufmerksamkeit erregen. Von da an zwang sie andere – meistens Freunde oder Geschwister – ihr Interesse zu teilen, und für sie Ton zu sammeln, Modell zu stehen oder Gips vorzubereiten. Mit der Zeit langweilten sie Camilles Projekte und sie verschwanden, sobald sie sie kommen sahen.
Ein Bild von Camille im Alter von vierzehn Jahren zeigt eine nachdenkliche Jugendliche, ihre schwarzen Augen und ihr gerader Mund in einem Ausdruck nahe der Traurigkeit. Die Claudels waren zwei Jahre zuvor nach Nogent-sur-Seine, etwa hundert Kilometer von Paris, gezogen. Zu dieser Zeit war ihr Zeichentalent bereits von ihren Kunstlehrern entdeckt worden, aber sie übte auch eigenständig und benutzte Miniaturen und alte Stiche als Inspiration, wenn sie Figuren griechischer und historischer Persönlichkeiten schuf. Nur drei Arbeiten aus dieser Zeit sind heute noch erhalten: eine Skulptur von David und Goliath, Napoleon I. und Bismarck. Ihre Arbeit weckte die Aufmerksamkeit des jungen Bildhauers Alfred Boucher, der aus der Stadt Nogent kam und später in Paris lebte. Boucher besuchte gelegentlich seine Heimatstadt und als er dabei in das Atelier Camilles kam und ihre Arbeiten sah, kehrte er von da an oftmals zurück, um ihr Unterricht zu geben und ihr mit dem nötigen Rat zur Seite zu stehen.
In Nogent entwickelte sich Camilles künstlerisches Talent auch unter der Führung eines Monsieur Colin, der von ihren Eltern angestellt worden war, um sich um die Bildung der Kinder zu kümmern. Indem er sie in Mathematik, Rechtschreibung und Latein unterrichtete, bot Colin den Claudel Kindern eine bessere Ausbildung als sie sie vielleicht erhalten hätten, wenn sie in eine öffentliche Schule vor Ort gegangen wären. Diese beiden Lehrer, Bouchin und Colin, bildeten zweifelsohne das Fundament für Camilles künstlerische und intellektuelle Entwicklung. Allerdings bot Nogent, was Camille als Bildhauerin anging, nur begrenzte Möglichkeiten. Die Kunstausbildung, die eine Frau im ländlichen Frankreich zur Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt, richtete sich nach den Plänen der École Gratuite de Dessin pour les Jeunes Filles, einer Schule für Gestaltung in Paris. Dies ermöglichte ihr, später als Lehrerin oder im Herstellungsgewerbe zu arbeiten. Eine seriöse Kunstschule, an der Aktmodelle angestellt wurden, zu besuchen, war auf dem Land unmöglich. Im Jahr 1881 wurde Louis-Prosper nach Wassy-sur-Blaise versetzt, da er jedoch darum bemüht war, seinen Kinder eine bestmögliche Ausbildung zu garantieren, besorgte er für Louise und die Kinder eine Wohnung in Paris. Jahre später erzählte Paul Claudel eine andere Geschichte: Camille soll aus Sorge um ihre künstlerische Ausbildung den Vater angefleht haben, in Paris leben zu dürfen, wo Frauen zu Schulen zugelassen wurden, an denen sie Zugang zu Aktmodellen hatten. Im 19. Jahrhundert war die Fähigkeit, Aktmodelle zu zeichnen und zu formen, der Standard, an dem das Talent des Künstlers beurteilt wurde. Louise Claudel mag diese Vereinbarung abgelehnt haben, da sie das stabile, familienorientierte Leben auf dem Land bevorzugte, wo Frauen lernten, einen Haushalt zu führen, heirateten und Kinder bekamen. Aber, dass Camille alleine im Herzen von Paris leben würde, um eine Schule zu besuchen, stand außer Frage. So erhielt Camille im Jahr 1881 – im Alter von siebzehn Jahren – ihre ersten Eindrücke des Pariser Lebens. Es war fast so, als hätte sich die Stadt in Erwartung ihrer Ankunft neu belebt. In Folge des Deutsch-Französischen Krieges 1870/1871, in dem Frankreich besiegt worden war und Paris die schlimmste Belagerung seiner Geschichte durchlitt, war die Dritte Republik ausgerufen worden; es folgte eine Zeit des Patriotismus, in der nationale Symbole – Frauenfiguren wie Marianne oder Johanna von Orléans –, die die Republik repräsentierten, in Städten und Dörfern im ganzen Land aus dem Boden sprossen. Künstler gründeten Ateliers in nahezu jeder Straße auf dem rechten Seine-Ufer in der Umgebung von Clichy und Rochechouart. Am frühen Morgen und Abend konnten diese Künstler dabei beobachtet werden, wie sie mit Farbkisten und Mappen in den Armen die Straßen entlang eilten.
Junger Römer oder Paul Claudel mit 16 Jahren, 1884
Gips, patiniert, 50,5 x 46 x 29 cm. Privatsammlung
Studie für einen Bürger von Calais, 1885
Bronze auf Würfel aus rotem, geädertem Marmor, 15 x 10 x 13 cm (ohne Sockel). Privatsammlung
Louise Claudel oder Madame de Massary, um 1885
Terrakotta, 49 x 22 x 25 cm. Palais des Beaux Arts de Lille, Lille
Nachdem sich die Familie in Paris in ihrer Wohnung auf dem Boulevard du Montparanssse nierdergelassen hatte, schreib sich Camille noch im gleichen Jahr in der Académie Colarossi ein. Die Schule verfolgte einen demokratischen Lehransatz: Frauen studierten Seite an Seite mit Männern, und im Gegensatz zu anderen Kunstakademien, an denen Frauen oftmals die doppelte Gebühr ihrer männlichen Kommilitonen zahlen mussten, verlangte die Académie Colarossi die gleiche Gebühr für beide Geschlechter. Im Allgemeinen war sie auch günstiger als viele andere Einrichtungen der Stadt. Angesehene Künstler und Bildhauer besuchten die Studentenateliers regelmäßig, um zu unterrichten, und die Académie Colarossi richtete ihren Fokus stärker auf den Bereich Skulptur als andere Kunstschulen in Paris.
Zunächst nutzte Camille einen Teil der heimischen Wohnung als Atelier, später fand sie ein Atelier in der Rue Notre-Dame-des-Champs. Die Familie bezog daraufhin eine Wohnung neben dem neuen Atelier und unweit der Académie Colarossi; zwei Mädchen aus England teilten sich das Atelier mit Camille. Alber Boucher besuchte Camille häufig, gab ihr Ratschläge und stellte ihr auch seinen Mentor, den Leiter der École des Beaux-Arts, Paul Dubois, vor. Offensichtlich beeindruckt von ihrem Talent und ihrer tatkräftigen Herangehensweise, fragte Dubois sie beiläufig, ob sie Unterricht von Rodin erhalten habe. Weder hatte sie bei Rodin studiert, noch hatte sie je von ihm gehört.
1882 verließ Boucher Paris und ging nach Florenz, nachdem er im Jahr zuvor den Grand Prix du Salon erhalten hatte. Er fragte Rodin, die Ausbildung seiner Protégées zu übernehmen, darunter die talentierte siebzehnjährige Camille Claudel. Der 42-jährige Rodin lebte mit seiner Mätresse Rose Beuret zusammen. Das Paar hatte einen Sohn, Auguste, der nur zwei Jahre jünger war als Camille. Rodins künstlerische Karriere hatte hauptsächlich aus Aufträgen bestanden, dekorative Elemente für Gebäude und Fassaden herzustellen, aber in den späten 1870ern, war er darum bemüht, seinen kreativen Bedürfnissen nachzugehen und so schuf er sein erstes großes Werk, Das eherne Zeitalter: der Akt eines jungen Mannes, die Arme wie in einem Akt der Selbstfindung gehoben. Anfänglich wurde das Werk von der Kunstszene kritisiert, die darauf verwies, dass es sich um einen Gipsabguss nach dem lebenden Modell handle. Mit der Zeit wurde Rodins Integrität geschätzt und die französische Regierung erwarb das Stück zusammen mit einer Statue Johannes des Täufers.
Ende 1882 oder zu Beginn 1883, als der 42-jährige Rodin zum ersten Mal das Atelier in der Rue Notre-Dame-des-Champs aufsuchte, fand er in dem Raum wahrscheinlich mehrere junge Frauen vor, die bei der Arbeit waren, die verschiedenen Stadien ihrer Projekte zu vollenden. Fotografien von Camilles Atelier zeigen Perserteppiche an den Wänden, ein Klavier zur einen Seite und mehrere dekorative Objekte, einschließlich eines Gipspapageien, die den Raum füllen. Zu dieser Zeit zeigte Camille zwei oder drei ihrer Arbeiten in dem Raum. Eines war die Büste ihres Bruders mit dem Titel Paul Claudel mit dreizehn Jahren, ein anderes war Alte Helene und ein weiteres, Büste der Madame B., mag sich noch im Schaffensprozess befunden haben, allerdings scheint es, dass das Werk verschollen ist.
Kopf eines Sklaven, um 1885
Grauer Ton auf meergrünem Marmorsockel, 13 x 8,5 x 11,5 cm; Sockel: Höhe: 9 cm; Durchmesser: 10,5 cm; Gesamthöhe mit Sockel: 22 cm. Privatsammlung
Junger Römer oder Paul Claudel mit 16 Jahren, 1886 oder 1887
Bronze, 51 x 44 x 25 cm. Musée Calvet, Avignon
Paul Claudel mit dreizehn Jahren zeigt einen Jungen, der an einen römischen Edelmann an der Schwelle zum Mannsein erinnert. Es reflektiert deutlich Camilles Zuneigung zu ihrem Bruder und sollte in gewisser Weise prophetisch sein; Paul wurde später ein bekannter Dichter und Schriftsteller und verbrachte einige Jahre im auswärtigen Dienst. Alte Helene ist im Gegenzug die Büste einer der Bediensteten der Claudels: eine alte Frau, den Kopf zur Seite, die Stirn in Falten gelegt, ein gezwungenes Lächeln und ein strenger Blick. Mögleicherweise vollendete Camille die Büste der Madame B. unter der Anleitung Rodins.
Claudel hatte ein schwieriges, fast grausames Medium für ihre Selbstentfaltung gewählt. Ein Bildhauer im 19. Jahrhundert zu sein, bedeutete Staub und Schmutz zu atmen, Wasser zu schleppen, Armaturen zu bauen, im Ton zu wühlen und am Ende des Tages alles aufzuräumen. Die finanzielle Entlohnung entschädigte nur selten für den harten körperlichen Einsatz. Für eine Frau zu dieser Zeit bestand noch ein anderes Dilemma: ihr wurde die Arbeit zusätzlich durch die vorgeschriebene Kleiderordnung der Zeit erschwert. Wenn sie Hosen tragen wollte, brauchte sie die Erlaubnis des Polizeipräfekten.
Die Materialkosten stellten ein weiteres Problem dar. Wenn ein Bildhauer auch in der Lage war, sich Ton und Gips zu leisten, so handelte es sich doch um äußerst fragile Rohstoffe. Arbeiten wurden aufbewahrt und dupliziert, wenn sie in der Gießerei in Bronze gegossen wurden, jedoch mussten die Künstler auch für die Materialkosten der Bronze und für die Arbeitskosten der Gießerei aufkommen, was am schwersten auf die Ausgaben drückte. Hinzu kamen Kosten für Modelle, die Miete für ein Atelier und die täglichen Lebenshaltungskosten. Oft war es nur die Leidenschaft des Künstlers, die ihn davon abhielt, einer anderen Beschäftigung nachzugehen. Viele übernahmen Dekorateurs- oder Lehranstellungen, um zu überleben.
Im 19. Jahrhundert wandten die Gießer das Wachsausschmelzverfahren an, um eine möglichst originalgetreue Reproduktion zu erhalten. Der Gießer fertigte hierfür ein Gipsnegativ vom Original an, ummantelte den neuen Abdruck mit einer Wachsschicht und gab eine weitere Gipsschicht über das Wachs. Diese beiden Gipsformen wurden mit Bronzenadeln befestigt. Anschließend wurden die Formen erhitzt, um das Wachs zum Schmelzen zu bringen, das durch dünne Zylinder (Angüsse) herausfloss. Danach goss er flüssige Bronze in den Hohlraum, aus dem er zuvor das Wachs ausgeschmolzen hatte. Die Angüsse wurden abgetrennt, Dichtungen entfernt und die Bronze poliert. Bronzegüsse ermöglichten die Herstellung mehrerer Reproduktionen, sodass der Künstler von seinem Original Gewinn erzielen konnte. Steinbildhauerei, normalerweise in Marmor, war teuer und natürlich: ein falscher Schlag und das Werk war ruiniert.
Nachdem Rodin Camilles Talent und ihren Einsatz gesehn hatte, machte er sie 1884 zu seinem Lehrling. Zu dieser Zeit arbeiteten mehrere Künstler für ihn, aber sie blieben stets bloße Zeichner. Er arbietete am Höllentor, einer Bronzetür für das Musée des Arts Décoratifs, inspiriert von Dantes Göttlicher Komödie und bestehend aus über 200 Figuren, die alle Formen des Leidens über sich ergehen lassen müssen. Es wurde zu Rodins Lebenswerk, seinem Magnum Opus. Es heißt, Camille habe für einige der Figuren Modell gestanden; in jedem Fall arbeitete sie an den Händen und Füßen der größeren Figuren.
Eine der Künstlerinnen im Dienste Rodins war Jessie Lipscomb, die 1884 aus England gekommen war, um in das Atelier einzutreten. Sie lebte bei den Claudels und es entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft; ihre Loyalität gegenüber Camille schwankte selbst in den schwierigen Phasen in Camilles und Rodins Beziehung nur selten, tatsächlich fungierte sie oft verbindend zwischen den beiden.
Es ist nicht sicher, wann Rodin und Camille ein Paar wurden, wahrscheinlich ist jedoch der Zeitraum zwischen 1883 und 1884. Sowohl Camille als auch Lipscomb begannen um 1885, in seinem Atelier in der Rue de l’Université zu arbeiten, und es wird vermutet, dass sich die beiden noch imselben Jahr näher kamen. Seit den 1860er Jahren hatte Rodin mit seinem Modell Rose Beuret gelebt, die er 1917 kurz vor seinem Tod heiraten würde. Beuret war zunächst nur sein Modell, später als seine Haushälterin und Assistentin in seinem Atelier und beteiligte sich als Näherin an den Haushaltskosten. Bis in die späten 1870er lebten sie für einige Jahre in Belgien und kehrten schließlich nach Paris zurück. Rose war sich der Liebeleien Rodins mit anderen Frauen, insbesondere seinen Modellen, bewusst, ging aber wohl davon aus, dass ein Mann von seinem Temperament und seiner Kreativität kein konventionelles Leben als Geschäftsmann oder Ladenbesitzer führen konnte. So hinderte Rodin nichts daran, Camille zu seiner Schülerin und Geliebten zu machen; jedoch agierten die beiden stets diskret, um nicht Madame Claudels Verdacht gegenüber ihrer Tochter zu erregen. In der Tat verhielten sich die beiden derart diskret, dass Camilles Mutter einmal Rodin und seine „Frau“ (viele nannten Rose Madame Rodin) auf einen Besuch nach Villeneuve einlud.
Die Büste der Madame B. wurde für den Salon, der jedes Jahr im Mai von der Société des Artistes Français organisiert wurde, akzeptiert. Arbeiten, die mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurden, erwarb anschließend der französischen Staat, und die Regierung erteilte Aufträge an die Preisträger. Während der Salon die Arbeiten vieler Frauen akzeptierte, gewannen diese selten Preise, und wenn, dann nur ehrenvolle Auszeichnungen.
In der Zeit von 1884 bis 1888 genossen Camille und Jessie das Bohème-Leben innerhalb der Pariser Kunstwelt. Wenn die Mädchen nicht in ihrem Atelier arbeiteten, durchzogen sie die Straßen der Stadt, vergnügten sich im Louvre, im Palais du Luxembourg und in Versailles. An den Nachmittagen entspannten sie sich bei Tee und Zigaretten, eine gewagte Beschäftigung für Frauen jener Zeit. 1885 schuf Camille eine Büste ihrer Schwester mit dem Titel Louise Claudel und 1888 Shakuntala (1, 2, 3). Das letztgenannte Stück erhielt eine ehrenvolle Auszeichnung im Salon des Artistes.
Paul Claudel im Alter von zwanzig Jahren, 1888
Farbstifte, nicht signiert, 43 x 34 cm. Privatsammlung
Es gab zahllose Debatten über Rodins Einfluss auf Camille und umgekehrt. Rodin instruierte seine Schüler unentwegt, Hände und Füße zu formen, da er glaubte, Bewegung ginge von ihnen aus. Einmal sagte er, der wichtigste Aspekt des Körpers sei das Profil; jede Drehung des Körpers erzeuge ein neues Profil. Zudem überzeugte er Künstler, Eigenschaften zu übertreiben, da diese später noch verändert werden könnten.
Rodin arbeitete während seines Lebens in mehreren Ateliers, das in der Rue de l’Université betrachtete er allerdings als sein Zuhause. Dort bereiteten Camille und Jessie Materialien und Armaturen vor, vergrößerten oder verkleinerten Bozzetti und fertigten Studien für die größeren Skulpturen wie Die Bürger von Calais und Das Höllentor an. Camilles Rolle im Atelier war im Vergleich zu der der anderen eine etwas gehobenere. Jessie und die anderen „kleideten die Figuren ein“ – Rodin schuf seine Figuren stets als Akt, um sie anschließend einzukleiden. Camille betraute er mit der Schaffung von Händen und Füßen, außerdem fragte er Camille häufig um Rat, bevor er mit der Arbeit an den Figuren fortfuhr. Im Allgemeinen war das künstlerische Verhältnis zwischen Camille und Rodin während dieser Zeitaufteilung ein zwangloses. Oft führte er die abschließenden Feinarbeiten an ihren Arbeiten aus und signierte sie, ein üblicher Vorgang im Europa des 19. Jahrhunderts. Schüler wussten, dass es sich hierbei um einen Lernprozess handelte; nichtsdestotrotz gab es oftmals Schwierigkeiten, das richtige Werk dem richtigen Bildhauer zuzuschreiben. Mädchen mit der Garbe (1, 2) und Galatea sind gute Beispiele hierfür. Camille vollendete Mädchen mit der Garbe um 1887; Rodin Galatea vermutlich ein oder zwei Jahre später. Beide zeigen ein junges sitzendes Mädchen, den rechten Arm gebeugt und ihre rechte Brust verdeckend. Ihr linkes Bein ist nach hinten angewinkelt; sie blickt leicht nach rechts. Camilles Motiv wirkt etwas mehr wie eine Unschuldige; Rodins scheint reifer. Es ist unmöglich zu sagen, ob Rodin von Camilles Kreativität profitierte oder nicht, ob er die leitende Kraft hinter ihrem Genius war oder ob er ähnliche Werke kreierte, um zu sehen, ob er sie besser ausführen konnte. Die Tatsache, dass ihr Verhältnis das einer Studentin und ihres Lehrers überstieg, erschwert nur das Urteil darüber, wer von wem profitiert oder wer wen ausgenutzt hat.
Nachdem sich die beiden ihre gegenseitige Liebe gestanden hatten, war es nötig, Diskretion zu bewahren. Ihre gemeinsamen Bekanntschaften, zumeist andere Künstler, sahen die Beziehung locker und erwähnten sie nur selten. Immerhin lebte Rodin mit Rose Beuret und Camille wohnte in der elterlichen Wohnung auf dem Boulevard de Port-Royal. Außerdem hätte der Altersunterschied der beiden (Rodin war 24 Jahre älter als Claudel) den Skandal nur noch vergrößert.
In jedem Fall war die Mitte der 1880er eine überaus produktive Zeit für Camille. 1884 schuf sie den Torso einer kauernden Frau in getöntem Gips, der eine kauernde Figur zeigt, deren angespannte kräftige Beine und Füße den Körper tragen. Hiervon wurden mehrere Bronzen gegossen. Familienmitglieder dienten von 1884 bis 1886 als Modelle. Paul Claudel stand Modell für Junger Römer (1, 2, 3); Porträt von Louise-Athanaïse Claudel, ein Ölgemälde ihrer Mutter, wurde zerstört. Auch Büste von Louis-Prosper Claudel, höchstwahrscheinlich in Gips ausgeführt, ist verschollen. Louise Claudel, eine Terrakotta-Büste ihrer Schwester, wurde 1885 geschaffen. Mehrere Versionen des Jungen Römers wurden in Bronze und Gips erhalten. Eine Louise Claudel-Büste in Terrakotta befindet sich im Musée des Beaux-Arts in Lille und eine Bronze wurde dem Musée Bargoin in Clermont-Ferrand gestiftet. Ihre Junge Frau mit geschlossenen Augen, ausgeführt in Terrakotta, zeigt eine anmutigere Seite Camilles; den Kopf leicht zur Seite geneigt, das feste Kinn gehoben, den Mund leicht geöffnet, als warte sie auf den Kuss ihres Geliebten.
Junges Mädchen mit Kapuze (Das Gebet), 1889
Bronze, 45 x 31,5 x 38 cm. Musée Boucher-de-Perthes, Abbeville
Der Walzer „mit Schleier“, 1892
Bronze, Guss Siot-Decauville (1893), 96 x 87 x 56 cm. Galleri Kaare Berntsen, Oslo
Die Schwätzerinnen oder Die Zufriedenheit, studie „ohne Wand“, um 1892-1893
Bronze, posthumer Guss, 23 x 29 x 26 cm. Musée Rodin, Paris
Die kleine Schlossherrin, version mit gebogenem Flechtzopf, 1893
Gips, patiniert, 33 x 28 x 22 cm. Privatsammlung
Die kleine Schlossherrin, version mit gebogenem Flechtzopf, 1893
Gips, 33 x 28 x 22 cm. Privatsammlung
Im Laufe des Jahres 1885, während Camille an den Bürgern von Calais arbeitete, bildete sich auch ihre eigene künstlerische Vorstellung heraus. Ihre Rolle in dem Schaffungsprozess bot ihr die nötige Erfahrung. Auch Arbeiten von Jessie Lipscomb zeigen Ähnlichkeiten zu Werken von Claudel und Rodin aus dieser Zeit auf, was vor allem auf die Tatasache zurückzuführen ist, dass die drei das gleiche Modell, bekannt als „Giganti“ benutzten. Camille und Jessie schufen jeweils um das Jahr 1885 eine Büste von ihm. Jessies Arbeit weist eine größere Ähnlichkeit auf; sie zeigt wenig Emotion, ganz so als habe das Modell für ein Porträt posiert. Camilles Giganti zeigt stärkere, intensivere Gesichtszüge: das Kinn ist gehoben, der Mund voll und starr, die Augenbrauen sind zusammengezogen. Die Figur wirkt unverhohlen kühn und selbstsicher. Zusammen mit Alte Helene wurde Giganti im Salon 1885 ausgestellt. Mehrere Güsse von Camilles Giganti befinden sich in europäischen Museen, wie etwa in Cherbourg, Lille, Reims und Bremen. Interessanterweise wurde das Exemplar der Bremer Sammlung von Rodin signiert. Dies könnte zwei Gründe haben: Rodin bewunderte es und wollte sich damit schmücken, oder die Signatur sollte das Werk wertvoller gegenüber einem aus der Hand Claudels machen. Eine Gipsstudie des Giganti, die nach Camilles Tod gefunden wurde, diente Rodin als Studie für Geiz und Wollust. Die beiden Figuren dieser Skulptur tauchen auch im Höllentor auf.
Ab 1886 war das Verhältnis zwischen Claudel und Rodin für die meisten ihrer Freunde, jedoch nicht für ihre Familien, offensichtlich. Camille hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ihren eigenen Stil entwickelt und hatte das Stadium hinter sich, in dem sie Rodin um Führung bat. Einige glauben, dass es hingegen Rodin war, der sie in künstlerischen Belangen um Rat fragte – obwohl seine Aufträge stetig wuchsen und er eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Dennoch bereitete ihm die Verbindung zu Camille große Sorgen. Die beiden stritten oft und Camille würde für längere Zeit spurlos verschwinden. In einem undatierten Brief von Rodin an Camille schildert er ihr – beunruhigt aufgrund ihrer deutlichen Geringschätzung seiner Gefühle –, wie er eine ganze Nacht damit verbrachte, sie zu suchen. Jessie fungierte als Vermittlerin zwischen den beiden Liebenden: Claudels unberechenbares Temperament verwirrte den reuevollen Rodin, dessen Leidenschaft an einen Schuljungen erinnerte, der sich zum ersten Mal verliebt. Rodin schrieb Jessie mehrere Male, sie möge Camille zu ihm bringen.
Im Frühling des Jahres lud Jessie Camille zu ihren Eltern nach England ein. Die Mädchen verließen Paris im Mai und kehrten im September zurück. Zufälligerweise hatte Rodin geplant, Ende Mai ein Wochenende bei einem Freund in London zu verbringen. Als die Lipscombs davon erfuhren, luden sie ihn ein, sie für einen Tag in Peterborough zu besuchen. Rodin nahm gerne an, da er sich bereits auf ein Wiedersehen mit der Frau, die er liebte, freute. Camille jedoch ignorierte Rodin bei seiner Ankunft. So blieb Rodin für eine Nacht und reiste am nächsten Morgen enttäuscht ab.
Camille verbrachte den Rest des Sommers mit einer weiteren Freundin, mit der sie sich das Atelier in Paris geteilt hatte, und im August kam Paul Claudel auf die Isle of Wight, um sie und die Lipscombs zu besuchen. Rodin hoffte, sie würde gegen Ende August zurückkommen und lud sie und Jessie daher ein, ihn nach ihrer Ankunft in Calais nach Belgien zu begleiten. Aber Camille lehnte ab, da sie eingeplant hatte, Giganti auf der Herbstausstellung in Nottingham zu zeigen. Dennoch schrieb sie Rodin, dass sie in England unglücklich sei und er auf seine Gesundheit achten solle. Trotzdem kehrte sie erst im September nach Frankreich zurück. Von den 1886 und 1887 fertiggestellten Werken sind vermutlich Jessie Lipscomb, Junger Römer und verschiedene Ölgemälde wie das Porträt der Eugénie Plé (Reproduktion in L’Art décoratif, Juli 1913; heute verschollen), Porträt der Maria Paillette, Rodin, ein Buch lesend (verschollen), Louise Claudel (Madame de Massary), Porträt der Victoire Josephine Brunet (verschollen) und ein weiteres Porträt Rodins die bekanntesten.
Die kleine Schlossherrin, version mit geradem Flechtzopf, 1893
Marmor (1895), 33 x 28 x 22 cm. Privatsammlung
Hündin, einen Knochen kauend, um 1893
Bronze, Guss Alexis Rudier, 15 x 25,5 x 11 cm (Höhe: 20 cm mit Holzsockel). Privatsammlung
Die Schwätzerinnen oder Die Zufriedenheit, erste Fassung „mit Wand“, 1893
Bronze mit Marmorwand (1905), 32 x 34 x 24 cm. Privatsammlung
Die Schwätzerinnen oder Die Zufriedenheit, erste Fassung „mit Wand“, 1893
Bronze mit Wand, Guss Eugène Blot (1905). Die Wand ist verschollen
Es gibt viele Gründe, warum Camilles Stimmung gegenüber Rodin schwankte. Es mag der Beginn ihres Nervenzusammenbruchs gewesen sein, oder sie befürchtete, ihre Mutter könnte von ihrem Verhältnis erfahren, was einen noch größeren Bruch in der Mutter-Tochter-Beziehung, die bestenfalls als heikel bezeichnet werden konnte, verursacht hätte. Dennoch arbeitete Camille weiterhin in Rodins Atelier, stand für ihn Modell und unterstützte ihn bei seinen Projekten. 1886 schuf er Der Gedanke: der Kopf einer nachdenklichen jungen Frau in Terrakotta, für den Camille posierte. Befestigt auf einer Marmorplatte, wirkt der Kopf, als versinke er in dem Stein, die gedankenversunkene Frau scheint in ein Leben eingesperrt, das für sie bestimmt wurde. In gewisser Weise ist das Werk ernüchternd vorausahnend, da es Camilles spätere Einweisung in eine psychiatrische Anstalt vorwegzunehmen scheint.
Wenn Camille sich nicht in einem ihrer temperamentvollen Gemütszustände befand, suchte sie seine Hilfe, um ihre Karriere voranzutreiben. Sie begleitete ihn zu mehreren gesellschaftlichen Abendessen, während denen man sie als Rodins Schülerin bezeichnete. Rodin kontaktierte außerdem die Zeitschrift L’Art, woraufhin der Kunstkritiker Paul Leroi einen lobenden Text über Camilles Skulptur ihrer Schwester Louise verfasste. Der Artikel beschrieb außerdem einige Zeichnungen, die Camille während eines Familienurlaubs im Jahr 1885 angefertigt hatte: zwei Frauen aus den Vogesen und eine Aktzeichnung. 1887 folgte ein weiterer Bericht, dieses Mal über den Jungen Römer, der zu dieser Zeit im Salon ausgestellt wurde. Erneut wurden in dem Artikel auch Kohlezeichnungen behandelt: drei Studien älterer Frauen und die des Vaters eines Freundes. Leroi pries Camille als Frau, die endgültig zu ihrer eigenen künstlerischen Stimme und Vorstellung gelangt war.
Trotz der Ungewissheit ihrer Gefühle setzte Rodin im Oktober 1886 einen Vertrag für Camille auf. Unter anderem versprach er, nur sie als seine Studentin zu haben, dass er ihr seine Freunde und Kontakte frei zur Verfügung stellen würde und dass er alles ihm Mögliche machen würde, um ihre Ausstellungen bekanntzumachen; er hatte vor, sie mit nach Italien zu nehmen, um dort für sechs Monate zu leben und sie anschließend zu heiraten. Es gab offenbar Zeiten, in denen Camille Rodin drängte, sie zu heiraten. Aus dem Vertrag wurde allerdings nie etwas. Vielleicht sehnte sie sich nach einer schriftlichen Bekundung, in der er ihr zeigte, dass er sie als Frau und als Künstlerin würdigte.
Im Jahr 1887 begann Camille ihre erste großangelegte Arbeit, Shakuntala. Das Projekt nahm sie so in Anspruch, dass sie ihre Tage eingeschlossen in ihrem Atelier verbrachte – oftmals zwölf Stunden am Stück. Zu dem Werk, bestehend aus zwei Figuren – einem Mann und einer Frau –, wurde sie von einer indischen Geschichte, verfasst in Sanskrit, aus dem 5. Jahrhundert inspiriert. Die Geschichte handelt von einem Prinzen, der während der Jagd die Tochter eines Heiligen und einer Nymphe trifft, die von einem Einsiedler aufgenommen wurde. Der Prinz verliebt sich in sie, die beiden heiraten und bevor er zu seinem Schloss aufbricht, gibt er ihr einen Ring und verspricht ihr, bald zu ihr zurückzukehren. Eines Tages belegt der durch Shakuntala erzürnte Einsiedler den Prinzen mit einem Zauberspruch, der ihn Shakuntala vergessen lassen soll, es sei denn, er sähe ihren Ring. Daraufhin macht sie sich zu dem Palast auf, doch als sie einen Fluss überquert, verliert sie den Ring. Nicht in der Lage, ihm den Ring zu zeigen, begibt sie sich in einen Wald, wo sie einen Sohn zur Welt bringt, den sie in der Hochzeitsnacht empfangen hat. Ein Fischer findet später den Ring und bringt ihn zu dem Prinzen, der aus dem Zauber erwacht und sich an seine zurückgelassene Frau erinnert. Das Märchen endet, indem der Prinz Shakuntala sucht und sie zu seinem Schloss zurückbringt, wo er sie zu seiner Königin macht.
Der fliegende Gott (Detail), zweite Fassung, 1894
Bronze, posthumer Guss, 69 x 56 x 38 cm. Privatsammlung
Die Schwätzerinnen oder Die Zufriedenheit, erste Fassung, 1894
Bronze und Marmor, Guss Eugène Blot (1905), 33 x 20 x 31 cm. Privatsammlung
Die Schwätzerinnen oder Die Zufriedenheit (Detail), erste Fassung, 1894
Bronze und Marmor, 33 x 20 x 31 cm. Privatsammlung
Camilles Skulptur zeigt den Prinzen in dem Moment, in dem er voller Reue vor der Frau, die er liebt, kniet, und Shakuntala in seine Arme fällt. Ihr Arm bedeckt sittsam ihre Brust, während ihr Kopf sich leicht zur Stirn ihres Ehemannes beugt. Die von dem Werk ausgehende Stimmung vereint Zärtlichkeit, Erotik, Freude und Anbetung.
Nachdem Camille einen ruhigen Sommer mit ihrer Familie verbracht hatte, verlebten sie und Rodin im September desselben Jahres ihren ersten gemeinsamen Aufenthalt im Tal der Loire. Die in seinem Vertrag versprochene Italienreise fand niemals statt, und die Frage der Heirat schien wie aufgelöst. Camille wurde launisch und gereizt, legte aber zugleich eine gewisse Koketterie an den Tag. Möglicherweise wollte Rodin sie mit einem mehrtägigen Aufenthalt in dem Schloss von Azay-le-Rideau besänftigen; es sollte der erste von vielen werden.
Zu diesem Zeitpunkt war es für Camille unmöglich geworden, die Liaison zu Rodin weiterhin geheimzuhalten. Paul wusste davon, und da er 1886 zum katholischen Glauben übergetreten war, bedrückte ihn die Indiskretion seiner Schwester zutiefst. Camille hatte keine andere Wahl, als von zu Hause auszuziehen. Sie mietete eine kleine Wohnung auf dem Boulevard d’Italie und im Januar 1888 bezahlte Rodin die Miete für das gesamte erste Jahr. Noch im selben Jahr bezog Rodin ein weiteres Atelier am Boulevard d’Italie, nur einen Steinwurf entfernt von Camilles neuem Zuhause. Angeblich war es der Treffpunkt von George Sand und dem Dichter Alfred de Musset. Obwohl das Gebäude gut und gerne als abbruchreif bezeichnet werden konnte, zählte es zu den von Rodin bevorzugten Ateliers. Die Außenseite war mit Pflanzen überwuchert, die Innenräume waren aufgrund bröckelnder Mauern teils unbewohnbar. Aber es bot Camille und Rodin eine gewisse Privatsphäre und zu guter Letzt war es weit genug von dem Haus entfernt, dass er mit Rose teilte.
Die Gipsfassung der Shakuntala wurde rechtzeitig für den Salon des Jahres 1888 fertiggestellt, wo sie nicht nur eine ehrenvolle Auszeichnung erhielt, sondern auch von einigen Kritikern gelobt wurde. Über die Jahre entstanden weitere Fassungen der Shakuntala: Eine Version in Marmor aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde in Vertumnus und Pomona umbenannt, eine Ahnlehnung an das mythologische Paar und an die Statue der Pomona, die das marode Atelier von Camille und Rodin schmückte. Später finanzierte Eugène Blot zwei Bronze-Fassungen. Andere Werke, die in jenem Jahr entstanden, waren die Büste von Auguste Rodin (1, 2), Profil von Auguste Rodin (als Flachrelief), Studie nach der Natur (Kohle-zeichnung), Paul Claudel (Farbstifte), Torso einer stehenden Frau (Bronze) und Ferdinand de Massary (1, 2).
Rodin hatte Schwierigkeiten bei der rechtzeitigen Fertigstellung des Höllentors für die Weltausstellung des Jahres 1889 und verpasste schließlich die Frist. Stattdessen veranstalteten er und Claude Monet eine gemeinsame Retrospektive in der Galerie Georges Petit im Juni desselben Jahres. Der Arbeitsaufwand für diese Ausstellung zusammen mit der Enttäuschung über sich selbt, Das Höllentor nicht rechtzeitig vollendet zu haben, ließen ihn nicht nur erschöpft sondern auch gereizt zurück. Nichtsdestotrotz war die Ausstellung für beide Künstler ein Erfolg: Monet stellte 145 Gemälde aus und zu Rodins 36 Skulpturen zählte auch die Endfassung der Bürger von Calais. Nach der Salon-Ausstellung begann Camille, an zwei weiteren Skulpturen zu arbeiten. Zum einen die Büste von Charles Lhermitte, Sohn des Malers Léon Lhermitte. Es zeigt einen gedankenversunkenen, vor sich hin starrenden Jungen mit schulterlangen Haaren. Man fühlt eine angestaute Energie, als würde er sich fragen, wann er nicht mehr gezwungen sein würde still zu sitzen. Wenn es auch nicht die Intensität der Shakuntala erreichte, wurde es doch von der Kritik auf der Weltausstellung 1889 wohlwollend aufgenommen. Zum anderen begann sie Skizzen für ein größeres Werk eines Walzer tanzenden Paares. In diesem Sommer verdrückte sich Rodin heimlich nach Südfrankreich und anschließend nach Spanien, sodass niemand wusste, selbst Rose nicht, wo er sich aufhielt. Camille begleitete ihn offenbar, allerdings hatte sie sich für ihre Freunde eine Geschichte zurechtgelegt, dass sie vorhatte, als Kindermädchen für eine britische Familie auf ihrer Reise über den Kontinent zu arbeiten. Das Paar reiste zwei Monate lang und kehrte im September nach Paris zurück. Camille beabsichtigte, sich wieder ihrem Arbeitsplan zu widmen. Zu der Büste und der Skulptur der Tanzenden erhielt sie außerdem einen Auftrag im Namen der Republik für eine Skulptur derselben für den Brunnen in ihrem Geburtsort Fère-en-Tardenois. Aber als der Historiker, der den Auftrag ursprünglich initiiert hatte, den konservativen Mitgliedern des Stadtrates den Entwurf vorlegte, lehnten diese ab. Eine von einer Frau entworfene Skulptur war inakzeptabel. Seltsamerweise ging Camille locker mit der Ablehnung um und widmete sich der Weiterarbeit an ihren anderen beiden Projekten.
Die kleine Schlossherrin, version mit geradem Flechtzopf, 1895
Marmor, 44 x 34 x 30 cm. Sammlung Michel Toselli, Paris
Die Schwätzerinnen oder Die Zufriedenheit, zweite Fassung „mit Wand“, 1896
Gips, 40 x 40 x 40 cm. Musée d’art et d’histoire, Genf
Die Schwätzerinnen oder Die Zufriedenheit (Detail), zweite Fassung „mit Wand“, 1896
Gips, 40 x 40 x 40 cm. Musée d’art et d’histoire, Genf
Die Weltausstellung 1889, während der Gustave Eiffels Turm den Horizont dominierte, war mehr als nur ein Fest anlässlich des einhundertsten Jubiläums der Französischen Revolution. Menschen aus allen Teilen der Welt konnten einen Blick auf Kulturen werfen, von denen sie bis dahin nur in Büchern gelesen hatten. Man konnte die Pracht eines afrikanischen Marktes, die farbenfrohen Theaterstücke des Fernen Ostens und die fremden Geschmäcker und Gerüche unbekannter Speisen entdecken. Viele Pariser jedoch schämten sich für das Metallskelett, das die Landschaft der Ausstellung bestimmte. Der Eiffelturm, das heute weltweit bekannte Symbol des Landes, wurde zunächst als eine Monstrosität betrachtet.
Sowohl Claudel als auch Rodin zeigten im Rahmen der Austellung ihre Werke, von denen allerdings keines ihre künstlerische Karriere bestimmen sollte. Rodin stellte viele Exponate aus, die an die Ausstellung mit Monet erinnerten. Camilles Arbeiten bestanden aus der Lhermitte-Skulptur, die, wenn auch positiv von der zeitgenössischen Kritik hervorgehoben, nur wenigen Kritikern auffiehl.
Die Jahre von 1889 bis 1892 waren für Camille eine vergleichsweise wenig produktive Phase. Sie verbrachte mehrere Aufenthalte in Azay-le-Rideau – einige alleine, andere zusammen mit Rodin. Sie nahm nicht an den Salon-Ausstellungen 1890 und 1891 teil. Im Jahre 1889 wirkte Rodin an der Gründung der Société des Beaux-Arts mit und übernahm den Vorsitz für den Bereich Bildhauerei. Camille war Teil der Jury. Für die Ausstellung der Gesellschaft 1891 erhielt Rodin den Auftrag, eine Skulptur zu Ehren des Schriftstellers Honoré de Balzac anzufertigen. Um den Spuren Balzacs zu folgen und Inspiration für das Stück zu erhalten, reisten Camille und Rodin nach Anjou und in die Touraine.
1892 wurde Camilles Büste von Rodin nach beinahe vier Jahren sporadischen Gießens und Formens in Bronze gegossen. Einmal nahm Camille eine frische Form, vollendete die Büste und stellte sie nach dem Gießen in Bronze im Salon 1892 aus. Heute befindet sich das Stück auf dem Champ de Mars. Ihre Mühen wurden von den Kritikern positiv aufgenommen; viele sahen sie als vollendte Hommage an Rodin. Jeder Gesichtszug, von den wohlgeformten Schläfen bis hin zu der kräftigen Nase, den ausdrucksstarken Augen und dem bis ins Detail gearbeiteten Bart, zeugte von der Stärke ihrer Technik.
Im selben Jahr wurde außerdem die Bronzefassung des mehrere Jahre zuvor entworfenen Stücks Der Walzer vollendet und ausgestellt. Die Entstehungsgeschichte der Skulptur war bestimmt von politischen Überlegungen, Auseinandersetzungen und künstlerischen Interpretationen mit moralischem Beiklang. Über Jahre hatte Camille, eine in der Marmor-Bildhauerei geschickte Künstlerin, einen Auftrag von der französischen Regierung erfragt. Sie war überzeugt, dass die halblebensgroßen Walzertänzer am besten in Marmor ausgeführt werden sollten. Der Minister für bildende Künste beauftragte Inspektor Armand Dayot, das Werk zu besichtigen und eine Bewertung auszustellen. Als Dayot das Stück sah, wurde er aufgrund der von ihm später als klar sexuelle Anspielungen eingestuften Züge etwas nervös, und in seinem Bericht empfahl er, dass die beiden halbnackten Figuren in schwerere Gewänder gekleidet werden sollten. Wörtlich hieß es, die Tänzer seien „schwer“ und die Kleidung zu leicht. Obwohl Rodin versuchte, Camille zu verteidigen, blieben seine Bemühungen unbeachtet. Dayot war unnachgiebig und sagte, am meisten störe ihn die „Nähe der Körperteile“, und schlug vor, einige Veränderungen an der Komposition vorzunehmen. Camille willigte ein und während der folgenden Monate fertigte sie Draperie-Studien für die Gruppe an, die sie erneut bei Dayot einreichte. Die Anfrage nach Marmor wurde vom Minister für bildende Künste bewilligt, doch noch bevor ein Brief mit der guten Nachricht Camille erreichen konnte, entschied sich Henry Roujon, staatlicher Beauftragter für die bildenden Künste, einzuschreiten. Er war der Meinung, dass es noch immer Probleme mit der Anständigkeit des Werkes gab. Es war eine Sache, den Auftrag an eine Frau zu erteilen, aber eine Frau, die in ihrem Werk offensichtliche Sinnlichkeit darstellte, hatte ganz klar eine Linie überschritten. Während der folgenden Jahre versuchten noch andere, Camille beizustehen, doch Roujot bewegte sich nicht.
Die Woge, 1897
Bronze, posthumer Guss (1989), 60 x 47 x 60 cm (Höhe: 68 cm mit Sockel). Privatsammlung
Frau an ihrem Toilettentisch oder Frau liest einen Brief, 1897
Gips, 38,5 x 39,5 x 28 cm. Privatsammlung
Perseus und die Gorgone, 1897-1902
Großer Marmor (1902), 196 x 111 x 90 cm. Sammlung Assurances Générales de France
Perseus und die Gorgone (Detail), 1897-1902
Großer Marmor (1902), 196 x 111 x 90 cm. Sammlung Assurances Générales de France
Perseus und die Gorgone (Detail), 1897-1902
Großer Marmor (1902), 196 x 111 x 90 cm. Sammlung Assurances Générales de France
Die Schwätzerinnen oder Die Zufriedenheit, 1897
Onyx und Marmor, 45 x 42,2 x 39 cm. Musée Rodin, Paris
Das reife Alter (Recto), zweite Fassung, 1898
Kleines Modell, Bronze, Guss Eugène Blot, 61,5 x 85 x 37 cm. Privatsammlung
Das reife Alter (Verso), zweite Fassung, 1898
Kleines Modell, Bronze, Guss Eugène Blot, 61,5 x 85 x 37 cm. Privatsammlung
Das reife Alter (Detail), zweite Fassung, 1898
Kleines Modell, Bronze, Guss Eugène Blot, 61,5 x 85 x 37 cm. Privatsammlung
Das reife Alter (Detail), zweite Fassung, 1898
Kleines Modell, Bronze, Guss Eugène Blot, 61,5 x 85 x 37 cm. Privatsammlung
Glücklicherweise sprachen die Kritiker dem Walzer bei dessen Ausstellung im Salon großes Lob aus. Sie waren ergriffen von der Emotion, dem Wesen der Figuren und dem in den Bewegungen der Liebenden so augenscheinlichen Gefühl der Anbetung. Kleinere Versionen der Skulptur wurden im „unbedeckten“ Originalzustand gefertigt. Der Komponist Claude Debussy hatte eine davon auf seinem Kaminsims platziert; dies und Camilles und Debussys gegenseitige Wertschätzung von Kunst und Musik mündete in einer engen Freundschaft, die von Klatsch innerhalb der Kunstszene begleitet wurde, die beiden seien mehr als nur Freunde gewesen. Der genaue Charakter des Verhältnisses Camilles zu Debussy ist ungeklärt. Sie lernten sich um das Jahr 1888 kennen, da beide oftmals den gemeinsamen Freund Robert Godet besuchten. In jeden Fall teilten die beiden die gleichen Interessen und Leidenschaften: Debussy begeisterte sich für javanische Musik und Camille für japanische Kunst. Debussy interessierte sich wenig für Rodins Werk, das er als zu sentimental ansah, und dabei offensichtlich den starken Einfluss Rodins auf Camilles Werk übersah.
1893 stellte Claudel auch Klotho aus, und obwohl Debussy das Werk bewunderte, mag er dennoch gespürt haben, dass Camille damit zu weit gegangen war; er glaubte eine dem Werk zugrunde liegende Böswilligkeit zu erkennen, die ihn wiederum erschreckt haben mag. In der griechischen Mythologie weben Klotho und ihre beiden Schwestern den Faden des Lebens. Camille schuf eine runzlige, knöchrige Frau, gefangen in den von ihr gewobenen Fäden des Lebens. Der Kopf hat sich in den Fäden verheddert, während sie versucht, sich aus den Fäden zu befreien. Sowohl der Walzer mit seiner Zärtlichkeit als auch das qualvolle Leid der Klotho löste in Camilles Feinden und Bewunderern starke Gefühle aus. Aber selbst lobende Stimmen lenkten die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass sie eine Frau war. Der Kritiker Octave Mirbeau schrieb in Ceux du Champ de Mars (Mai 1893), dass ihre Skulptur bezüglich „ihrer Konzeption derart männlich sei, dass man angesichts der Herkunft aus der Hand einer Frau erstaune“.
Während dieser Zeit belasteten Spannungen die Beziehung von Camille und Rodin. Rose wusste von dem Verhältnis und konfrontierte die beiden mit einer Tirade, sobald sie das Haus in der Rue des Grands-Augustins betreten hatte. Camille betrachtete Rose als schrullige alte Frau, und drückte ihren Schmerz und Zorn aus, indem sie böswillige Skizzen zeichnete, die Rose als knöchrige alte Frau zeigten, die gewillt war, ihren Mann zu Hause gefangen zu halten. In einer der Zeichnungen stößt sie Rodin in seine Brust, als schimpfte sie mit ihm. In einer anderen trägt Rose einen Besen, während sie auf und ab laufend den in Ketten gelegten Rodin bewacht. Beide Frauen waren besorgt, dass Rodin sie verlassen könnte, aber er wollte beide behalten – eine Frau, die für ihn kochte und sich um ihn sorgte, die andere für die körperliche Liebe sowie als intellektuelles Gegenstück. Wenngleich er glaubte, beide auf Abstand halten zu können, indem er ihnen die gleiche Art Geschenke machte, funktionierte es nicht. Camille begann sich von ihm zu trennen, als sie im Frühjahr 1892 aus dem Haus am Boulevard d’Italie auszog und eine Wohnung in der Nähe des Eiffelturms bezog. Im Sommer des Jahres reiste sie alleine nach Azay-le-Rideau. Es ging das Gerücht um, dass sie irgendwann in dieser Zeit eine Abtreibung durchführen ließ; dies scheint umso glaubwürdiger, da Paul Claudel in einem Brief aus dem Jahre 1939 an eine Freundin, die auch eine Abtreibung hatte, auf eine ihm nahe stehende Person Bezug nimmt, die ein Kind getötet habe und dafür in einer Nervenheilanstalt bezahle. In Azay-le-Rideau begann sie Die kleine Schlossherrin, die Büste eines sechsjährigen Mädchens, der Enkelin des Schlossherrn. Es dauerte zwei Sommer, das Stück zu vollenden; das Resultat zeigt ein Kind mit einem Ausdruck von Unschuld, Neugier und Staunen. Neben den Gips- (1, 2, 3) und Bronzefassungen der Büste schuf Camille außerdem vier Marmorstücke (1, 2, 3). Ihr Talent in der Marmorbearbeitung überstieg das vieler Künstler ihrer Zeit. Während frühe Gipsversionen das Mädchen mit einem Zopf zeigen, zeigt eine 1896 ausgestellte Marmorbüste einzelne Haarsträhnen. Der Kopf wurde ausgehöhlt, damit das Gesicht im Licht heller erstrahlte.
Die Flehende, 1899-1900
Bronze, großes Modell, Guss Eugène Blot (1905), 62 x 65 x 37 cm. Privatsammlung
Der Zeitraum von 1892 bis 1903 markierte für Camille eine Phase der Unabhängigkeit und höchster Kreativität. Nach und nach löste sie sich aus der Beziehung zu Rodin und akzeptierte nur noch seinen Beistand als Künstler. Sie durchstreifte die Straßen der Arbeiterklasse in der Nachbarschaft ihres Ateliers, beobachtete Alltagsszenen und hielt sie zurück in ihrem Atelier in ihrem Skizzenbuch fest: Drei auf einem Wagen sitzende Männer in neuen Kleidern auf dem Weg zur Messe; Eltern, die ihre Tochter anstarren; eine junge, auf einer Bank sitzende Frau, die weint; oder kleine Leute beim Tischgebet. Um zu beweisen, dass sie ihr Leben selbst bestimmte, entfernte sie ihren Stil bewusst von dem Rodins; seine Skulpturen waren nackt, ihre angezogen; er fertigte große Figuren, sie kleine.
In einem energischen Brief an Paul nannte sie die Arbeiten, die sie plante, an den 1894er Salon in Brüssel zu senden: Die kleine Schlossherrin, Junges Mädchen mit Kapuze (Das Gebet), Der Walzer (1, 2) und „das kleine Paar Liebender“. Letzteres wird im Brüsseler Katalog nicht erwähnt; ein weiteres aufgelistetes, Kleine Schritte, ist verschollen. Danach widmete sie sich einem größeren Projekt, einer dreifigurigen Gruppe mit dem Titel Das reife Alter (erste und zweite Fassung (1, 2, 3, 4)), das ebenso für die Ausstellung 1894 bestimmt war, allerdings erst sieben Jahre später vollendet wurde. Das Werk zeigte einen Mann mittleren Alters, der vom ‚Alter‘ von der Jugend‘ in Form einer jungen, sylphengleichen Frau, die ihn anfleht zu bleiben, fortgerissen wird. Einige deuteten das Stück als Camilles Versuch, den Verlust Rodins an die gealterte Rose Beuret zu verarbeiten. Unterdessen konzentrierte sie sich auf die Figur der Jugend und stellte sie als Die Flehende aus: ein kniender Frauenakt, der sich danach ausstreckt, was verloren gegangen ist. Das Werk stellt möglicherweise sowohl Rodin als auch Cupido dar.
Camilles finanzielle Lage lastete zu dieser Zeit schwer auf ihr. Paul schickte ihr etwas Geld, und dank der Anstrengungen Rodins und Morhardts wurde eine Marmorfassung der Klotho von einer Gruppe in Auftrag geben, die mit den Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag des Künstlers Puvis de Chavannes betraut war. Zu Ehren Chavannes spendete das Komitee diese dem Musée du Luxembourg.
Für Camille bedeutete dies eine Erleichterung und so konnte sie ihre Aufmerksamkeit auf ihr nächstes Projekt, Die Schwätzerinnen, richten, das sie in einem Brief an Paul skizziert hatte. Camille ließ sich zu diesem Werk von einer Gruppe vier Frauen inspirieren, die sie während einer Zugfahrt beobachtet hatte. Die Figuren sind hinter einer Wand versammelt und hören gespannt und hungrig den Skandalen der Schwätzenden genau zu. Das Stück wurde bei seiner Ausstellung auf dem Marsfeld im Jahr 1895 derart positiv aufgenommen, dass gleich mehrere weitere Fassungen entstanden: sowohl mit Wand (1, 2) als auch ohne, in Gips (1, 2), Bronze (1, 2), Marmor und grünem Onyx.
Die Reaktion des Publikums und ein Artikel, der Camilles Fähigkeiten pries und zudem unterschwellig fragte, warum das Ministerium nicht mehr ihrer Arbeiten anfragte, richteten den Fokus auf Claudel. Rodin, der aus der Entfernung noch immer ihren Werdegang beobachtete, war erfreut und arbeitete hinter den Kulissen, indem er Kritiker anschrieb und Treffen zwischen Camille und dem Minister für Bildung und bildende Künste arrangierte, mit dem Ziel, ihr weitere Aufträge zu verschaffen. Im Juli 1895 kam der Kunstinspektor in ihr Atelier mit dem Auftrag für eine Büste, Camille aber bat stattdessen lieber um die Möglichkeit, den Gips für Das reife Alter für 2 500 Francs fertigzustellen. Die Anspielung auf Rodins Kampf gegen das Alter blieb dem Ministerium nicht verborgen. Ironischerweise war es Camilles erster öffentlicher, von Rodin initiierter Auftrag, der drohte, seine privaten Ängste zur Schau zu stellen.
Die Woge, 1897
Bronze mit grüner und brauner Patina, 58,4 x 45,7 x 61 cm. Museo Soumaya, Mexiko-Stadt
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Camilles ganz eigener Stil bereits gefestigt. 1895 übergab sie ihre große Gipsfassung der Shakuntala an das Museum Châteauroux, und obwohl das Werk von Kunstkritikern und dem Komitee gepriesen wurde, machte sich die örtliche Bourgeoisie darüber lustig und kritisierte die Kosten. Claudel erkundete die psychologischen Aspekte des Alltagslebens. Kurz nach den Schwätzerinnen entstanden Der tiefe Gedanke (1898; (1, 2)) und Singender alter Blinder. Die Woge in Gips wurde 1897 und eine Version in Bronze und Onyx (1, 2) 1898 ausgestellt. Während einige der in diesem Zeitraum produzierten Werke verschollen sind, besteht Sicherheit darüber, dass sie zudem mehrere Gemälde anfertigte: Léon Lhermitte (1894), Graf Christian de Maigret im Kostüm Heinrichs II. (1899), Paul Claudel mit zweiundvierzig Jahren (1910), mehrere Kinderköpfe (1, 2) und Die Elsässerin (1902). In Auftrag gegebene Arbeiten waren Hamadryade (1897) und Perseus und die Gorgone (1897-1902). Die Werke Schicksal und Die Flötenspielerin wurden noch vor 1905 vollendet, doch zu diesem Zeitpunkt der aufblühenden Vorstellungskraft verschlechterte sich bereits ihre mentale Verfassung.
Zwischen 1893 und 1913 verkroch sich Camille in ihr Atelier, hatte kaum Kontakt zur Außenwelt, arbeitete unaufhörlich und reiste mit Ausnahme von einem Besuch auf Guernsey 1894 und einem gemeinsamen Aufenthalt mit Paul in den Pyrenäen 1905 nur noch selten. Bis 1898 traf sie sich gelegentlich mit Rodin, aber Camille bevorzugte Mathias Morhardt als Vermittler, bis sie ihn schließlich bat, Rodin zu sagen, er solle sich von ihr fernhalten. Und dennoch half Rodin weiterhin, ihre Karriere voranzutreiben, wovon sie oftmals nichts wusste. Er besorgte ihr Aufträge, schrieb Dankesbriefe an Kritiker, die sie während des Châtereau-Vorfalls verteidigt hatten, und bot ihr an, sie verschiedenen Politikern vorzustellen. Sie lehnte ab mit der Begründung, sie hätte nicht das Passende anzuziehen.
Zu dieser Zeit bewegte sie sich stets nahe der Armut. Ihr Vater und ihr Bruder halfen ihr, denn obwohl sie von ihren Zeitgenossen bewundert wurde, erhielt sie weniger Anerkennung in Form von Aufträgen, jedoch ist es möglich, dass sie kleine Objekte wie Lampen und Aschenbecher entwarf. Hinzu kam, dass Material (Marmor und Ton) und Personal (Gießer und Modelle) teuer waren. Die Schulden häuften sich mit jedem Jahr. Dennoch stellte sie weiterhin für die Société Nationale des Beaux-Arts, den Herbstsalon oder den Salon des Indépendants aus und zeigte ihre Werke zudem in den Galerien von Bing und Eugène Blot. 1884 erschienen ihre Arbeiten in Brüssel und auf der Weltausstellung 1900. Kritiker und Sammler entwickelten Interesse an ihren Werk, allerdings ignorierte sie oft die Möglichkeit einer Aufnahme in die Gesellschaft und bevorzugte stattdessen, ihren eigenen Weg zu verfolgen. Rodins Berühmtheit wuchs weiter an, was in ihr eine stechende Eifersucht veursacht haben könnte.
Die Bitterkeit zwischen Claudel und Rodin verschärfte sich, als im Mai 1899 Das reife Alter (einen Monat später gab das Ministerium eine Bronzefassung des Stücks in Auftrag; der Auftrag wurde allerdings kurz darauf aus unbekannten Gründen wieder zurückgenommen) zusammen mit Klotho, Gräfin Christian de Maigret und Perseus und die Gorgone ausgestellt wurde. Als Rodin Das reife Alter sah, war er aufgrund der öffentlichen Darlegung seines Privatlebens verletzte und wütend. Dies zerstörte auch die letzten freundschaftlichen Gefühle, die er noch für seine ehemalige Geliebte empfand. Im Gegenzug warf sie ihm vor, ihre Karriere und ihren Ruf schädigen zu wollen.
Gräfin Arthur de Maigret, 1903
Kohle auf Papier, weiß und mit Pastell gehöht, 53 x 66 cm. Musée municipal, Château-Gontier
Der Walzer „Eugène Blot“ (Detail), 1905
Bronze, großes Modell, 46,4 x 35,7 x 19,7 cm. Privatsammlung
Der Walzer, 1905
Bronze, vergoldet, kleines Modell, Guss Eugène Blot, 23,5 x 16,5 x 10 cm. Privatsammlung
Der tiefe Gedanke, 1905
Bronze und Marmor, Guss Eugène Blot, 24 x 22 x 27,5 cm. Galerie Odermatt-Cazeau, Paris
Die Hingabe, 1905
Bronze, kleines Modell, Guss Eugène Blot, 43 x 36 x 19 cm. Stiftung Sammlung Pierre Gianadda, Martigny (Schweiz)
Camille stritt weiter mit der französischen Regierung über den zurückgenommenen Auftrag für die Bronzeversion Des reifen Alters. Letztendlich gab Louis Tissier, Kapitän in der französischen Armee, eine Bronzefassung der knienden Figur der Gruppe in Auftrag. Später wurde die gesamte Skulptur in Bronze gegossen und 1903 auf dem Salon des Artistes Français ausgestellt. 1896 gab sie ihr Atelier am Boulevard d’Italie auf, zog in die Rue de Turenne und anschließend auf den Quai de Bourbon, wo sie ein zurückgezogenes Leben führte und Marmorfassungen von Shakuntala (umbenannt in Vertumnus und Pomona), Dem tiefen Gedanken und Dem Traum beim Feuer schuf. Andere Arbeiten umfassten Aurora (zwei Exemplare in Marmor (1, 2) und Die verwundete Niobide (in Gips). Mehrere Zeitschriften druckten Artikel, in denen ihr Genie und ihre Fähigkeit, ihren Beruf angesichts drohender Armut und Diskriminierung gegen weibliche Künstler bewundert wurden. Eine bestimmte Anzahl an Werken aus dieser Zeit sind verschollen; laut einem Freund, Henry Asselin, zerstörte sie ihre Arbeiten ab dem Jahr 1905 regelmäßig. Sobald die Trümmer und der Staub beseitigt waren, verschwand sie für mehrere Monate am Stück. 1908 stellte sie zum letzten Mal in ihrem Leben in der Galerie von Eugène Blot aus. Von da an schloss sie sich in ihre Wohnung am Quai de Bourbon ein und sah niemanden. Bis auf ihren Vater und ihren Bruder Paul hatte sich ihre Familie von ihr abgewandt. Sie mied ihre Freunde und nach einer gewissen Zeit kam niemand mehr, um sie zu sehen. Umgeben von Bruchstücken, die einst als Hommage an ihr Genius gedient hatten, verlebte sie die nächsten Jahre in einem Zustand der Verwirrung, Freudlosigkeit und Einsamkeit. Schließlich, im Jahr 1913, nachdem ihr Vater gestorben war, sah Paul keine andere Möglichkeit als Camille in die Nervenheilanstalt von Ville-Evrard nahe Paris einzuweisen. Im Jahr darauf wurde sie in die Heilanstalt von Montdevergues in Südfrankreich verlegt, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1943 blieb. Während dieser Jahre waren ihr Bruder Paul und ihre alte Freundin Jessie die einzigen Besucher. Ihre Mutter schickte gelegentlich Briefe, einige an die Leitung der Anstalt, in denen sie besondere Behandlung für ihre Tochter verlangte, einige an Camille, die allerdings von Bitterkeit und Vorwürfen über Camilles Undankbarkeit geprägt waren.
Camille Claudel starb am 19. Oktober 1943, und es sollte acht Jahre dauern, bis auf Treiben Paul Claudels ihre erste Retrospektve im Musée Rodin in Paris gezeigt wurde. In den letzten Jahrzehnten stieg erneut das Interesse an ihren Werken, sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa und Ostasien. Auch der Film Camille Claudel half die enge künstlerische und körperliche Beziehung zwischen Claudel und Rodin, ihrem Mentor, dem sie so viel verdankte, zu verstehen. Währenddessen bleibt die Frage, wie wohl ihr Leben verlaufen wäre, hätte sie ein Jahrhundert später gelebt, als weibliche Künstler vollends akzeptiert wurden. Es ist schwer zu sagen, wie ihr Leben ausgesehen hätte, wenn sie die aufgrund ihres Geschlechts verweigerte Anerkennung durch die Regierung erhalten hätte. Der Dank muss Kritikern und Kuratoren gelten, die den Wert ihrer Arbeit erkannten und ihre Werke wenn auch nur für eine kurze Zeit ihres Lebens der Öffentlichkeit zugänglich machten. Sie sahen ihre Empfindsamkeit gegenüber der Condition humaine und ihren Blick für die Erfahrungen des Lebens, und mit jeder Figur, die sie schuf, zeigt sich ein Teil ihrer Seele.
Paul Claudel im Alter von 37 Jahren, 1905
Bronze, Guss P. Converset (1910), 48 x 53 x 19 cm. Privatsammlung
Die verwundete Niobide, 1907
Bronze, Guss Eugène Blot, 90 x 50 x 55 cm. Musée Sainte-Croix, Poitiers