Die postimpressionistische Epoche-Hintergrund und Atmosphäre

Die technische und die wissenschaftliche Revolution

Die Ära des Postimpressionismus fiel in eine Atmosphäre fantastischer Veränderungen in der Welt der Technik und der Wissenschaften. Die Technik brachte wahre Wunder hervor. Die Entwicklung der Wissenschaften wurde in eine Vielzahl engerer Bahnen und Spezialisierungen gelenkt. Gleichzeitig kam es aber auch zu gemeinsamen Bestrebungen völlig unterschiedlicher Disziplinen, eine Entwicklung, die Entdeckungen und Erfindungen zur Folge hatte, an die zwei, drei Jahrzehnte zuvor nicht einmal zu denken war. Diese Entdeckungen haben die Vorstellungen von der Welt und vom Menschen geändert. Es reicht, daran zu erinnern, dass Charles Darwins Werk Die Abstammung des Menschen bereits 1871 veröffentlicht worden war.

Jede weitere Entdeckung oder Forschungsreise brachte wieder etwas Neues in diese Vorstellungen ein. Erfindungen auf dem Gebiet der Fortbewegung und des Nachrichtenwesens lockten den Menschen in früher unerreichbare Winkel der Erde. Es wurde zu neuen Mammutvorhaben aufgerufen, um den Verkehr zwischen den verschiedenen Kontinenten und Ländern zu erleichtern. In Griechenland begann 1882 der Bau des Kanals von Korinth, in Russland wurde 1891 die Umsetzung des großartigen Vorhabens der Transsibirischen Eisenbahn in Angriff genommen und in Amerika begann man mit den Arbeiten zum Bau des Panamakanals. Die Kenntnis neuer Länder und das dadurch erwachte Interesse mussten sich notwendigerweise auch in der Entwicklung der Kunst widerspiegeln.

Gleichzeitig entwickelten sich auch die Transport- und Kommunikationsmittel. Der Amerikaner Alexander Graham Bell (1847 bis 1922) erfand 1876 das Telefon und so konnten die Menschen auch über die größten Entfernungen hinweg miteinander sprechen. Der italienische Physiker Guglielmo Marconi (1874 bis 1937) entdeckte 1895 den Telegrafen und im Jahr 1899 fand die erste Rundfunkübertragung statt. Die Fortbewegung auf der Erde wurde immer schneller. Das erste Dampfauto erschien 1884 auf den Straßen Frankreichs, Gottlieb Daimler (1834 bis 1900) und Carl Friedrich Benz (1844 bis 1929) brachten 1886 in Deutschland die ersten Automobile auf den Markt und in Paris fand bereits 1898 die erste Automobilmesse statt. Auf den Straßen von Paris fuhr 1892 die erste Straßenbahn und nur acht Jahre danach wurde die Pariser Metro eröffnet. Der Mensch hob von der Erde ab, er stieg in die Lüfte und drang in die Tiefen der Meere vor. Der Luftfahrtpionier Clément Ader (1841 bis 1925) hob 1890 erstmals mit einem Flugzeug ab und 1909 überquerte Louis Blériot (1872 bis 1909) in einem Eindecker den Ärmelkanal. Gustave Zédé rief bereits 1887 das Vorhaben eines Unterseebootes ins Leben. Alle fantastischen Vorstellungen des Schriftstellers Jules Vernes (1828 bis 1905) wurden nun Wirklichkeit.

Zur gleichen Zeit kam es zu nicht ganz so sensationellen, aber gleichwohl für die Menschheit nicht weniger bedeutsamen Entdeckungen auf dem Gebiet der Wissenschaft. Fleming entdeckte im Jahr 1882 die Chromosomen, Louis Pasteur (1822 bis 1895) schuf 1879 die Möglichkeit der Impfung gegen Krankheiten und Weismanns Vererbungstheorie erschien im Jahr 1887. Der Niederländer Antoon Hendrik Lorentz (1853 bis 1982) entdeckte die Elektronen, Wilhelm Conrad Röntgen (1845 bis 1923) die Röntgenstrahlen, Pierre (1859 bis 1906) und Marie (1867 bis 1934) Curie die Radioaktivität.

All diese Entdeckungen auf dem Gebiet der Technik und der Wissenschaften haben, obwohl sie auf den ersten Blick nichts mit den bildenden Künsten zu tun haben, diese dennoch beeinflusst. In der Zusammenarbeit mit der Technik zeigte sich sogar ein neuer Aspekt der Kunst: Edison gelang 1894 mit seinem Kinetoskop die erste Filmaufnahme und bereits ein Jahr danach zeigten August (1862 bis 1954) und Louis (1864 bis 1948) Lumière den ersten Kinofilm.

Die Pläne der europäischen Forschungsreisenden wurden immer kühner und ehrgeiziger, von ihren Fahrten brachten sie neue, sensationelle Materialien nach Europa. Henry Morton Stanley (1841 bis 1904) durchquerte im Jahr 1874 Afrika und der Niederländer Eugene Dubois (1858 bis 1940) entdeckte 1891 auf Java die Überreste des Pithecanthropus. Bereits in den 1860er Jahren fanden die Archäologen E. Larte und H. Christy in der Madeleine-Höhle (Ardèche) Abbildungen des auf einen Stoßzahn eingravierten so genannten „langhaarigen Elefanten“. Es war schwer, an die Existenz einer paläolithischen Kunst zu glauben, aber weitere Funde von Archäologen zerstreuten alle Zweifel an ihrem ästhetischen Wert. In Paris erschien 1902 Die Beichte eines Skeptikers des Archäologen Emile Cartaillac, die einen Schlussstrich unter die lange Geschichte der Verkennung der Malerei der Urmenschen zog. Es begann eine Epoche der stürmischen Suche nach Werken der urmenschlichen Kunst, die in der Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert alle Merkmale eines wahren „Höhlenfiebers“ annahm.

Das Ende des 19. Jahrhunderts wurde zur Geburtsstunde der ethnografischen Wissenschaft. Das Völkerkundemuseum in Paris wurde 1882 eröffnet und in Madrid fand 1893 eine Ausstellung zu den Kulturen Mittelamerikas statt. Die Engländer stießen 1898 im Verlauf einer Strafexpedition in die afrikanischen Kolonien auf die seltsame Kunst Benins, wobei die Portugiesen die erste Begegnung mit dieser Kunst hatten, die das Land im 15. Jahrhundert entdeckten. Die goldenen Handwerksarbeiten der mexikanischen und peruanischen Ureinwohner, die im 16. Jahrhundert, nach der Entdeckung Amerikas, in großen Mengen in den Schatzkammern Europas gehortet wurden, waren seinerzeit der Aufmerksamkeit der Kunstverständigen und -liebhaber entgangen – sie waren lediglich ein zum Umschmelzen bestimmtes Edelmetall.

Die Ausdehnung der Grenzen der europäischen Welt am Ende des 19. Jahrhunderts eröffnete den Künstlern bis dahin ungeahnte ästhetische Horizonte. Die klassische Antike war nicht länger die einzige Quelle der darstellenden Künste. Das, was der Schriftsteller Oswald Spengler (1880 bis 1936) später den Untergang des Abendlandes nannte, womit er das Ende des Paneuropäismus im weitesten Sinne meinte, bezog sich am unmittelbarsten auf die Kunst. Dasselbe Jahr – 1886 – legte auch den Grundstein neuerlicher Veränderungen des Erscheinungsbildes der Stadt Paris. Es wurde für ein Bauvorhaben anlässlich des 100. Gedenktages der Französischen Revolution ein Wettbewerb ausgeschrieben, mit dem eine Weltausstellung verbunden war. Als Sieger ging das ehrgeizige Turmbauprojekt des Ingenieurs Gustave Eiffel (1832 bis 1923) hervor. Die Aussicht auf die Errichtung eines stählernen Turms mit einer Höhe von 300 Metern mitten im Zentrum der Stadt versetzte die Pariserinnen und Pariser in Angst und Schrecken. Nichtsdestotrotz traf die Weltausstellung 1889 auf ein mit der filigranen Architektur Eiffels geschmücktes Paris. Während der Ausstellung empfing der Eiffelturm täglich mindestens 12 000 Besucher, später fand er Verwendung als Telegrafenmast. Wesentlich wichtiger jedoch war, dass er sich in den Bestand eben jener architektonischen, das Stadtbild prägenden Bauten einreihte, mit denen man ihn zuvor unvorteilhaft verglichen hatte. Die Stadt bewegte sich auf das 20. Jahrhundert zu, ihre Entwicklung war unaufhaltsam. Das Paris des Barons Haussmann (1809 bis 1891) mit den Stahlkonstruktionen des Marktes von Baltard und seiner Bahnhöfe nahm den Eiffelturm wie selbstverständlich auf.

Paul Gauguin, Stillleben mit Früchten, 1888. Öl auf Leinwand, 43 x 58 cm. Puschkin-Museum, Moskau.

Paul Cézanne, Stillleben mit Obstschale, Glas und Äpfeln, 1879-1880. Öl auf Leinwand, 46 x 55 cm. Privatsammlung, Paris.

Unter den Künstlern des Zeitalters des Postimpressionismus waren solche, die die neue architektonische Ästhetik von Anfang an begrüßten. Für Paul Gauguin war die Weltausstellung eine Art Entdeckung der Welt des exotischen Ostens mit indischen Tempeln und javanischen Tänzen. Aber die funktionale Reinheit der Pavillons beeindruckte ihn nicht minder. Die Epoche des Postimpressionismus veränderte den Geschmack und die Vorlieben in der Kunst auf drastische Weise. Bereits 1912 rühmte der Schriftsteller Guillaume Apollinaire (1880 bis 1918) den Eiffelturm als neues Kennzeichen der Stadt; in seinen Gedichten verwandelte sich der Turm in eine die Brücken von Paris hütende Hirtin.

Das Jahr 1900 bescherte Paris neue architektonische Sehenswürdigkeiten: An den Ufern der Seine, wo traditionell die Weltausstellungspavillons errichtet wurden, entstanden Paläste. Eugène Henard (1849 bis 1923) schuf den Entwurf für ein Ensemble am rechten Ufer, dessen grundlegende Achse „… eine breite Avenue in der Achse der Esplanade des Invalides und der Brücke Alexandre III.“ war. Auf beiden Seiten der Prachtstraße erhoben sich zwei Pavillons für die Weltausstellung des Jahres 1900, das Grand Palais und das Petit Palais – Wunderwerke der modernen Bautechnik. Im Prinzip handelt es sich um eine von einer Steinfassade umhüllte Stahlarchitektur. Diese Stahlkonstruktionen gestatteten, die Paläste mit schweren Stein- und Bronzeskulpturen in Kombination mit Gemälden und Mosaiken zu schmücken. Außerdem war es dadurch möglich, die riesige Fläche des Grand Palais zu überdachen und großartige Säle für verschiedene Arten temporärer und selbst industrieller Ausstellungen zu bauen. Das Petit Palais wurde von dem Architekten Charles Girault (1851 bis 1932) als Kunstmuseum errichtet. An seiner Gestaltung waren zahlreiche namhafte Bildhauer und Maler des ausgehenden 19. Jahrhunderts beteiligt, so dass das Palais selbst zu einem Denkmal des im Zeitalter des Postimpressionismus geborenen neuen Stils wurde.

Gleichzeitig entstand am linken Seine-Ufer ein weiterer Palast. Eigentlich war das kein Palast, sondern der Bahnhof Gare d’Orsay mit einem Hotel, der nach einem Plan des Architekten Victor Laloux (1850 bis 1937) gebaut wurde. Die Züge sollten die Besucher der Weltausstellung von 1900 direkt ins Zentrum von Paris bringen. Die Zeitgenossen verglichen den Bahnhof mit dem Petit Palais. „Der Bahnhof ist prächtig und sieht wie ein Palast der schönen Künste aus, und der Palast der schönen Künste ähnelt einem Bahnhof, ich schlage Laloux vor, einen Tausch vorzunehmen, wenn dazu noch Zeit ist“, schrieb einer der Künstler zum Zeitpunkt der Eröffnung der Weltausstellung. Diese neuen Paläste vollendeten die Gestaltung des Paris der Epochen des Impressionismus und des Postimpressionismus.

Der Symbolismus und die Literatur

Die einschneidenden Veränderungen in den Vorstellungen von der Welt und vom Menschen führten zu ganz neuen Tendenzen in der Literatur. Am engsten mit der Literatur verbunden war in allen Epochen seit der Renaissance die Malerei. Die Literatur schuf sozusagen den Hintergrund, vor dem die neuen Richtungen in der darstellenden Kunst entstanden.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer erstaunlichen Zunahme des Interesses an der Literatur. Man begnügt sich nicht mehr mit den Schriftstellern der eigenen Sprache, sondern wendet sich auch der Literatur fremder Länder zu. So macht Frankreich im Jahr 1886 die Bekanntschaft mit den neuesten Erfolgsromanen der russischen Literatur – Fjodor Dostojewskijs (1821 bis 1881) Schuld und Sühne oder Anna Karenina von Leo Tolstoi (1828 bis 1910). Die Länder Skandinaviens ermöglichen den Franzosen mit den Werken Henrik Ibsens (1828 bis 1906), August Strindbergs (1849 bis 1912) oder des Deutschen Gerhart Hauptmann (1862 bis 1946) Einsicht in eine bisher weitgehend unbekannte Kultur. In den 1880er Jahren werden in Paris die mitreißenden Abenteuerromane des Engländers Robert Stevenson (1850 bis 1894) gedruckt: Die Schatzinsel und Der Junker von Ballantrae, in deren Folge die Leser seine Erzählung Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde kennen lernen, die ihnen einen ersten Blick in den Bereich der unglaublichen Möglichkeiten des Menschen, in die Geheimnisse seines Unterbewusstseins, eröffnet.

Eines nach dem anderen werden die Werke der Philosophen Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) und Arthur Schopenhauer (1788 bis 1860) veröffentlicht, und die Philosophie Henri-Louis Bergsons (1859 bis 1941) erschüttert die Zeitgenossen. An der Schwelle zum neuen Jahrhundert kommen die Arbeiten Sigmund Freuds (1856 bis 1939) und Carl Gustav Jungs (1875 bis 1961) heraus. Die Belletristik umfasst auch in geografischer Hinsicht eine ungewöhnlich weite Welt: Die Romane des Franzosen Pierre Loti (1850 bis 1923), des Engländers Rudyard Kipling (1865 bis 1936) oder des in der Ukraine geborenen Joseph Conrad (1857 bis 1924) locken in ferne, unerforschte Länder, wobei solche Reisen nunmehr durchaus im Bereich des Möglichen liegen. Am Ende des Jahrhunderts erscheinen in Frankreich nacheinander Die Zeitmaschine, Die Insel des Dr. Moreau, Der Unsichtbare und zu guter Letzt Der Krieg der Welten des Engländers Herbert George Wells (1866 bis 1946), der der Meinung war, dass die Fantasie des Menschen nicht im Stande sei, sich etwas auszudenken, das nicht in die Tat umgesetzt werden kann. Seine eigenen Werke ziehen gleichsam die Bilanz des Jahrhunderts und sagen unglaubliche Katastrophen voraus.

Pierre Bonnard, Fruchtkorb und -teller auf kariertem Tischtuch, 1939. Öl auf Leinwand, 58,4 x 58,4 cm. Geschenk von Mary und Leight Block, The Art Institute of Chicago, Chicago.

Théo van Rysselberghe, Die Lektüre von Émile Verhaeren, 1903. Öl auf Leinwand, 176 x 234 cm. Musée des Beaux-Arts, Gand.

Was die französische Literatur betrifft, so kann man sagen, dass sie einerseits den Höhepunkt des Realismus erreicht hat. Die Naturalistische Schule, die der Malerei des Impressionismus noch am ehesten entspricht, hat ihre Positionen am Ende des Jahrhunderts noch nicht aufgegeben. Der Ruhm des kürzlich verstorbenen Gustave Flaubert (1821 bis 1880) wächst, und die Romane Guy de Maupassants (1850 bis 1893), Edmond de Goncourts (1822 bis 1896), Alphonse Daudets (1840 bis 1897) und natürlich Émile Zolas (1840 bis 1902), der eine der bedeutendsten Persönlichkeiten im gesellschaftlichen Leben Frankreichs bleibt, werden in immer wieder neuen Auflagen gedruckt. In seinem Haus in Médan versammelt Zola Schriftsteller und gibt eine Anthologie ihrer Werke heraus. Sein mutiges Einschreiten zur Verteidigung Alfred Dreyfus’ (1859 bis 1935), der zu Unrecht des Landesverrats verurteilt worden war, trug ihm den Hass der etablierten Gesellschaft ein.

Und doch hatte der literarische Realismus seinen Zenit bereits überschritten, seine Werke hatten inzwischen den Rang von Klassikern angenommen. Die Empörung der Gesellschaft richtete sich nun auf eine neue Generation in der Literatur. Zur gleichen Zeit wie die „Naturalisten“ tauchten bereits in den 1870er Jahren in der Presse immer häufiger die Namen der Dichter Jean Rimbaud (1854 bis 1891), Paul Verlaine (1844 bis 1896), Leconte de Lisle (1818 bis 1894) und Joris-Karl Huysmans (1848 bis 1907) auf. Von Stéphane Mallarmé (1842 bis 1898) erscheint 1876 Der Nachmittag eines Fauns, der 1894 zum Anlass der Schaffung eines der wunderbarsten Werke des Komponisten Claude Debussys (1862 bis 1918) wurde – dem Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns. Die Musik bekräftigte nun zusammen mit der Literatur das Neue in der Kunst, das die kaum an den Naturalismus gewöhnte Gesellschaft ängstigte. Huysmans’ Roman Gegen den Strich wurde 1884 veröffentlicht. Der Autor bricht mit seinen Freunden aus Médan und preist Mallarmé und die dem Symbolismus nahe stehenden Maler Gustave Moreau (1826 bis 1898) und Odilon Redon (1840 bis 1916).

Am 18. September 1886, im denkwürdigen Jahr der letzten Ausstellung der Impressionisten, erschien in einer Beilage der Zeitung Le Figaro das von dem Dichter Jean Moréas (1856 bis 1910) verfasste Manifest des Symbolismus – danach wurde der Begriff Symbolismus in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen. Moréas festigte das neue, sich zu jener Zeit herausbildende Literaturkonzept. Bereits 1855, als es den Symbolismus in der Literatur noch nicht gab, veröffentlichte Charles Baudelaire (1821 bis 1867) in der Anthologie Die Blumen des Bösen das Gedicht Korrespondenzen, das wie das Programm einer neuen literarischen Schule klang.

Stéphane Mallarmé, der anerkannte Kopf der neuen Richtung, sammelte seine Anhänger seit 1884, seit er zu seinen „Dienstagen“ Maler, Kritiker, Musiker und Theaterschaffende einlud. Das Théâtre de l’Œuvre und das Freie Theater des Regisseurs André Antoine (1858 bis 1943) machen Paris mit der Dramatik Ibsens bekannt und bringen Stücke der Symbolisten und ihnen nahe stehender Autoren auf die Bühne. Im Einklang mit dem Symbolismus ertönte die Musik des deutschen Komponisten Richard Wagner (1813 bis 1883), dessen Tod eine neue Welle des Interesses auslöste. Die erste Welle der Wagner-Begeisterung erlebte Paris bereits zu Beginn der 1860er Jahre, als unter anderen Charles Baudelaire zur Unterstützung des Komponisten hervortrat. Die Aufmerksamkeit wurde erneut auf Wagner gelenkt, nachdem 1887 der Versuch der Inszenierung der Oper Lohengrin im Eden-Theater stürmische Proteste ausgelöst hatte. Seine Musik schockierte durch ihre Exaltiertheit, sei es durch leidenschaftliche Ausbrüche oder finstere, traurige Intonationen. Die Kraft Wagners bestand in seiner Mythenschöpfung, die auch der Doktrin der Symbolisten entsprach. In der Mitte der 1880er Jahre begann in Paris unter Mitwirkung Mallarmés die Herausgabe der Revue Vagnerienne, um die herum sich die Dichter, Maler und Musiker des Symbolistenkreises vereinigten. Félix Vallotton, ein Künstler aus der Gruppe der Nabis, schuf 1891 ein bemerkenswertes Holzschnittporträt Wagners. Und zwei Jahre zuvor erschien die erste Nummer der Zeitschrift La Revue Blanche, für die ihre Herausgeber, die Brüder Nathanson, die Schriftsteller des Symbolismus und eine ganze Reihe ihnen nahe stehender Künstler gewannen.

Nicht nur die Mehrheit des Bürgertums, sondern auch die Anhänger der früheren, bereits zu Klassikern gewordenen Schulen in der Kunst, reagierten überempfindlich auf den Symbolismus. In der Originalität seiner Schöpfer sahen sie Unnatürlichkeit, eine Laune und den Wunsch, sich selbst außerhalb der Gesellschaft zu stellen. Der Symbolismus schreckte besonders, weil er keine Strömung in der Kunst oder Literatur war, sondern ein philosophisches Modell, eine andere Beziehung zur Realität, eine neue Weltanschauung. Er entwickelte sich in der Folge jener grandiosen Umwälzung in der Wissenschaft, die seine Zeitgenossen erschütterte und ängstigte. Es schien, als gäbe es für alles im Leben eine rationale Erklärung und als hätte der Mensch der Natur bereits alle Geheimnisse entrissen. Der Symbolismus stellte der Gesellschaft die Technik und die Wissenschaften in dem Bestreben gegenüber, in der Kunst dem Geistig-Spirituellen wieder den Vorrang vor dem Materiellen zu geben. Seine Anhänger wandten sich nicht der wissenschaftlichen Logik zu, sondern der Intuition, dem Unterbewusstsein und der Fantasie – Kräften, die zum Kampf gegen die Allmacht der Materie und gegen die von der Physik aufgestellten Gesetze anregten.

Was die Literatur anbelangt, so blieb der Realismus der Hauptgegner und wichtigster Konkurrent des Symbolismus. Der von der naturalistischen Schule besungenen Prosa des Lebens stellte der Symbolismus den Mystizismus entgegen, das Geheimnis des Jenseits und die Suche nach dem verborgenen Sinn in allen Bildern und Erscheinungen. Der Symbolismus rief dazu auf, der uns umgebenden riesigen, unverständlichen Welt Gehör zu schenken und den geheimen Sinn des Daseins zu offenbaren, was nur dem echten Schöpfer möglich ist. An die Stelle der Beobachtung des Lebens setzte er eine außergewöhnliche, dem einfachen Künstler nicht zugängliche Einbildungskraft. Auf der Suche nach dem Geheimnis dieser Einbildungskraft wandten sich später, im 20. Jahrhundert, die Surrealisten dem Symbolismus zu. Im Manifest des Surrealismus schrieb der Schriftsteller André Breton (1896 bis 1966), dass der symbolistische Dichter Saint-Pol-Roux (1861 bis 1940) vor dem Zubettgehen einen Zettel an seine Tür hängte mit der Bitte, nicht zu stören, weil „… der Dichter arbeitet“. Die Symbolisten hatten indes ausdrücklich nicht die Bilder im Visier, die dem Künstler im Traum erschienen. Das von ihnen in der Literatur wie in der Malerei besungene Traumbild war die Verkörperung, wenn nicht das Symbol ihrer exklusiven Fantasie, die in der Lage war, sich über die Realität zu erheben.

Es scheint, als hätte die Romantik, in deren Zeichen die Künstler in der Mitte des Jahrhunderts arbeiteten, mit dem Tod Victor Hugos ihren Schwanengesang begonnen. Saint-Pol-Roux sagte, als er den Symbolismus analysierte:

„Die Romantik hat nur das Glitzern besungen, die kleinen, in die Sandschicht geratenen Muscheln und Käferchen. Der Naturalismus hat alle Sandkörnchen einzeln nachgezählt, aber die künftige Schriftstellergeneration wird ihn, nachdem sie nach Herzenslust mit diesem Sand gespielt hat, wegblasen, um das unter ihm verborgene Symbol freizulegen…“ [5]

Obwohl die Zeitgenossen des Postimpressionismus die Romantik als der Vergangenheit zugehörig betrachteten, verbarg sie sich in Wirklichkeit nur für einige Zeit im Untergrund, um dem Realismus in all seinen Spielarten das Feld zu überlassen. Jetzt wurde der Symbolismus zu ihrem natürlichen Nachfolger. Manche Wissenschaftler bezeichnen den Symbolismus sogar gelegentlich als „Nachromantik“. Wie die Romantik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, trat auch der Symbolismus am deutlichsten auf literarischem Gebiet hervor, übte dabei jedoch auf alle Bereiche der Kunst einen nachhaltigen Einfluss aus.

Der Symbolismus in der Literatur, den Jean Moréas 1886 in seinem Manifest vorstellte und erklärte, hatte zu jener Zeit bereits seine Reife erreicht. Moréas stellte fest, dass mit jeder Erneuerung der Verfall und das Aussterben der vorherigen Schule einhergeht. Natürlich zog sich eben dieser Naturalismus die schärfste Kritik und Verurteilung seitens der Ideologen des Symbolismus zu. Die Verkörperung des Naturalismus in der Literatur blieb für sie Émile Zola. Bei aller Begeisterung für die Begabung Zolas war Mallarmé der Meinung, dass seine Werke auf der untersten Stufe der Literatur stünden. Und der Schriftsteller Remy de Gourmont (1858 bis 1915) nannte das Werk Zolas im Eifer des Gefechts „kulinarische Kunst“, die lediglich die zubereiteten „Häppchen des Lebens“ nimmt,[6] die Ideen und Symbole jedoch außer Acht lässt.

Auf die Frage nach dem Naturalismus fand Stéphane Mallarmé als Definition für ihn ein literarisches Bild aus der Schatzkammer der Symbolisten.

Henri Fantin-Latour, Hélène, 1892. Öl auf Leinwand, 78 x 105 cm. Petit Palais – Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris, Paris.

Pierre Puvis de Chavannes, Mädchen an der Meeresküste, 1879. Öl auf Leinwand, 205 x 154 cm. Musée d’Orsay, Paris.

Pierre Puvis de Chavannes, Die Hoffnung, um 1872. Öl auf Leinwand, 70,5 x 82 cm. Musée d’Orsay, Paris.

„Bis heute stellte sich die Literatur ganz naiv vor“, sagte er, „dass sie, wenn sie Edelsteine sammelt und anschließend – nehmen wir an, sogar sehr schön – ihre Bezeichnungen zu Papier bringt, damit selbst Edelsteine schafft. Aber nichts dergleichen! (…) Die Dinge existieren ohne uns und es ist nicht unsere Aufgabe, sie zu schaffen; wir müssen nur die Verbindungen zwischen ihnen erfassen…“ [7]

Den Vorrang dieser Verbindungen in der neuen Weltanschauung verkündete Charles Baudelaire auf großartige Weise in den Korrespondenzen:

„Die Natur ist ein Tempel oder lebendige Säulen

Die manchmal wirr redet.

Der Mensch ist durch Wälder von Symbolen gewandert,

Die ihn mit vertraulichen Augen beobachten.“

Die Natur versucht, in ihrer Sprache mit dem Menschen zu sprechen, die er zu verstehen außer Stande ist. Diese Sprache ist voll von geheimnisvollen Symbolen und es wäre sinnlos, nach ihrer Bedeutung zu suchen. Die Anziehungskraft des Symbolismus besteht im Unterschied zur Schlichtheit und Klarheit des Naturalismus eben in seiner Rätselhaftigkeit, in dem tief verborgenen Geheimnis, das sich uns entzieht. Den Unterschied zwischen dem Symbolismus und dem Naturalismus hat Émile Verhaeren am besten erklärt.

„Da liegt vor dem Dichter das nächtliche Paris – Myriaden leuchtender Punkte im grenzenlosen Meer der Finsternis“, schreibt Verhaeren. „Er (der Schriftsteller) kann dieses Bild unmittelbar übertragen, wie es Zola getan hätte: die Straßen, Plätze, Denkmäler, Gasbrenner, die tintenschwarze Dunkelheit und das fieberhafte Treiben unter dem Blick der unbewegten Sterne beschreiben – die künstlerische Wirkung wird er bestimmt erzielen, aber keine Spur von Symbolismus. Aber er kann dasselbe Bild auch allmählich in die Fantasie des Lesers einführen, indem er beispielsweise sagt: „Es ist ein gigantisches Kryptogramm, zu dem der Schlüssel verloren ging, und dann bringt er ohne jegliche Beschreibungen und Aufzählungen in einem Satz das ganze Paris unter – sein Licht, seine Finsternis und Pracht.“[8]

Ein von der Realität abgeleitetes, verallgemeinertes, symbolisches Bild kann nur ein Auserwählter schaffen, nur der Künstler-Einzelgänger. In den Worten Mallarmés ist das „… ein Mensch, der sich mit Absicht zurückzieht, um seinen eigenen Grabstein zu meißeln…“[9] Die Symbolisten schufen so etwas wie den Kult des Einzelgängers aus eigener Überzeugung. Bei der Aufzählung der dem Symbolismus eigenen Qualitäten nennt Remy de Gourmont vor allem den Individualismus, die schöpferische Freiheit, die Lossagung von den einstudierten Formulierungen, das Streben nach dem völlig Neuen, Ungewöhnlichen, ja Befremdlichen. „Der Symbolismus (…) ist nichts anderes als der Ausdruck des künstlerischen Individualismus“,[10] schrieb er im Buch der Masken und illustrierte seine These mit glänzenden literarischen Porträts der symbolistischen Schriftsteller. Remy de Gourmont nennt sie „… Narzisse, die in das eigene Antlitz verliebt sind“.[11] Seine psychologische Analyse einer jeden dieser merkwürdigen Persönlichkeiten führt unwillkürlich zu einem Vergleich mit den außergewöhnlichen, von ihren Zeitgenossen unverstandenen Einzelgänger-Künstlern der Epoche des Postimpressionismus: Cézanne, Gauguin, van Gogh, Toulouse-Lautrec und Rousseau, „Der Zöllner Rousseau“. Die Steigerung der Emotionalität ihrer Malerei, ihre Unterordnung nicht unter die Natur, sondern nur unter die Individualität des Meisters, entspricht voll und ganz dem Credo des symbolistischen Dichters. Zur Bestimmung der neuen Gestalt des Schöpfers schreibt Remy de Gourmont über den belgischen Schriftsteller Maeterlinck (1862 bis 1949), dass er „… den stillen, ungehörten Schrei gefunden habe, eine Art zitterndes mystisches Stöhnen“, wodurch die Bedeutung der Mystik in seinen Werken bis an die Grenze verstärkt wurde.[12] Der Mystizismus, der als nicht wegzudenkendes Merkmal in den Begriff Symbolismus eingeht, nähert sich dem Begriff des Individualismus an. „Den Mystizismus“, sagt Remy de Gourmont, „kann man als einen Zustand betrachten, in dem sich die Seele, die sich nicht mit der physischen Welt verbunden fühlt und sich von allem Zufälligen und Unerwarteten befreit, ausschließlich der unmittelbaren Verschmelzung mit der Unendlichkeit ergibt.“[13]

Vor allem der Mystizismus und das keiner Enträtselung unterliegende Geheimnis sind als Sujet aus der Literatur in die darstellenden Künste eingegangen. Sowohl die Dichter als auch die Maler haben symbolische Themen in der Religion gesucht. Jean Moréas, der Autor des Manifests, meint, dass es des Symbolismus würdige Themen in der Literatur immer gegeben habe. „Bewahren denn nicht die Pythischen Oden eines Pindar (um 520 bis um 446 v.Chr.), William Shakespeares (1564 bis 1616) Hamlet, Dantes (1265 bis 1321) Vita Nueva, der zweite Teil von Goethes (1710 bis 1782) Faust oder Flauberts Versuchung des heiligen Antonius das Siegel eben dieser Rätselhaftigkeit?“ – schreibt er im Manifest. [14]

Die Malerei hat diese Sujets im Verlauf ihrer Existenz auch vielfach verwendet, aber jetzt versucht sie, in ihnen ein Symbol zu finden und durch dieses die Idee zu enthüllen. Die deutschen Romantiker verstanden es sehr gut, Themen für die Malerei und die Literatur zu finden. Sie schöpften sie aus der Natur und studierten die Märchen und Mythen verschiedener Länder, um die gehaltvollsten Symbole in ihnen ausfindig zu machen. Maeterlinck meinte, dass es einen unbewussten Symbolismus gebe, der vom Schöpfer ungewollt zu Tage tritt: „Er ist allen genialen Werken des menschlichen Geistes eigen“, sagte er in einem Gespräch, „seine ersten Beispiele sind die Werke Aischylos’ (525 bis 456 v.Chr.), Shakespeares...“[15]. Maeterlincks eigene Werke sind nach Meinung Remy de Gourmonts das allgemein gültige Modell und vielleicht sogar das Eichmaß des symbolischen Sujets. Im Buch der Masken gestaltet er ein Beispiel eines typischen Sujets Maeterlincks nach:

„Irgendwo inmitten von Nebelschwaden – die Insel. Auf der Insel – ein Schloss. Im Schloss – der große Saal, der von einer kleinen Lampe erhellt wird. Im Saal – Menschen, die warten. Warten – worauf? Sie wissen es nicht. Sie warten, dass etwas kommt und bei ihnen an die Tür klopft. Warten, dass die Lampe erlischt. Warten auf die Angst. Warten auf den Tod… Es ist schon spät. Möglicherweise kommt er erst morgen! Und die Menschen, die sich in dem großen, von einer kleinen Lampe erhellten Saal, versammelt haben, lächeln. Sie hoffen. Und plötzlich erklingt endlich ein Klopfen. Das ist alles. Das ist – ein ganzes Leben. Das ist das ganze Leben.“[16]

Ferdinand Hodler, Die Nacht, 1890. Öl auf Leinwand, 116 x 239 cm. Kunstmuseum Bern, Bern.

Die schönen Künste und der Symbolismus.

Die mit den Ideen des Symbolismus verbundenen Kunstwerke können nicht Gegenstand einer ruhigen, unvoreingenommenen Betrachtung oder Lektüre sein. Der französische Schriftsteller Alfred de Musset (1810 bis 1857) definierte die Romantik als alles, was die Seele beunruhigt und in Erregung versetzt. Dasselbe kann man auch vom Symbolismus sagen. Nur dass im Symbolismus noch die Angst, das Geheimnis, das Sonderbare, die Empfindung des Jenseits und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit hinzukommen.

Remy de Gourmont sagte mit Blick auf die Literatur, dass der Symbolismus Antinaturalismus sei. In diesem Fall ist er für die Malerei, die Bildhauerei und die Zeichenkunst zugleich Antirealismus und Antiimpressionismus. Wenn jedoch der Realismus und der Impressionismus Strömungen waren, die nicht nur ihre eigenen Ideen, sondern auch ihre eigenen Ausdrucksmittel hatten, dann war der Symbolismus in den bildenden Künsten eher die Reflexion einer literarisch-intellektuellen Bewegung. Die Ideen des Symbolismus beherrschten das Denken im Zeitalter des Postimpressionismus und gingen in das Schaffen der, gemessen an ihren schöpferischen Bestrebungen, unterschiedlichsten Künstler ein. Als Lehrer der Symbolisten in der darstellenden Kunst der Vergangenheit kann man die großen Visionäre betrachten, diejenigen, deren Halluzinationen zum allgemeinen Ausdruck menschlicher Gefühle wurden: den Spanier Francisco de Goya (1746 bis 1828), den Engländer William Blake (1757 bis 1827) oder den Schweizer Johann Füssli (1741 bis 1825). Die unmittelbaren Vorläufer der Symbolisten waren die deutschen Romantiker – Caspar David Friedrich (1774 bis 1840), Philipp Otto Runge (1777 bis 1810), die Nazarener – sowie die englischen Präraphaeliten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden in den europäischen Ländern einige Dutzend Maler gezählt, die ihr Schaffen mit den Ideen, der Symbolik, dem Bildaufbau und den Themen des literarischen Symbolismus verbanden. In Deutschland nannte man sie die „Spätromantiker“ – den Schweizer Arnold Böcklin (1827 bis 1901) und die deutschen Maler wie Hans von Marées (1837 bis 1887), Hans Thoma (1839 bis 1934) und Franz von Stuck (1863 bis 1928). In Belgien trat aus einer ganzen Gruppe symbolistischer Künstler Fernand Khnopff (1858 bis 1921) hervor; in Norwegen Edvard Munch (1863 bis 1944); in Russland Michail Vrubel (1856 bis 1910); in der Schweiz Ferdinand Hodler (1853 bis 1918).

Gerade unter den Symbolisten fanden sich jene, die den neuen dekorativen Stil der Jahrhundertwende, der in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Bezeichnungen trug, begründeten und am erfolgreichsten damit experimentierten. In Frankreich hieß dieser Stil Art Nouveau, in Deutschland Jugendstil und in Russland Moderne. Die dekorative Manier der Werke des Engländers Aubrey Beardsley (1872 bis 1898), des Österreichers Gustav Klimt (1862 bis 1918), des Tschechen Alfons Mucha (1860 bis 1939) und des Schweizers Eugène Grasse brachte diesen neuen Stil in der Grafik, Plakatmalerei und Buntglaskunst am deutlichsten zum Ausdruck. Manchmal tangierten die Einflüsse des Symbolismus einen der großen Meister nur beiläufig, ohne eine Hauptlinie seines Schaffens zu werden; ein solches Beispiel ist der Bildhauer Auguste Rodin (1840 bis 1917).

In Frankreich, der Heimat des Impressionismus, spiegelte sich der Symbolismus in den bildenden Künsten wider, wo er wie überall häufig ein literarisches Sujet zum Gegenstand nahm. Die Vorstellung von dem Bild, dem eine Geschichte oder eine Erzählung zugrunde liegt, war trotz des Versuchs der Impressionisten, die Malerei von den Fesseln der Literatur zu befreien, noch immer sehr stark. Die Akademien entließen in erster Linie perfekt ausgebildete Kunst-Handwerker, die Gemälde in traditioneller klassischer Manier und Maltechnik schufen. Im Salon wurden jedes Jahr faktisch dieselben profanen, der antiken Mythologie oder der Bibel entnommenen Bilder, Themen und Gestalten ausgestellt. Nur, dass ihnen jetzt da und dort ein Hauch von Mystik, Geheimnis, unerbittlichem Schicksal oder Melancholie anhaftete. Sie gewannen wie zuvor die Rom-Stipendien. Die Professoren Alexandre Cabanel (1823 bis 1889), Paul Baudry (1828 bis 1886), William Adolphe Bouguereau (1828 bis 1905) und Bonnat (1833 bis 1922) allen voran konnten stolz auf ihre Schüler sein, denen dieser Hauch von Symbolismus zu „Modernität“ verholfen hatte. Albert Besnard (1849 bis 1934) erhielt die prestigeträchtigsten Aufträge für Gemälde – im Pariser Rathaus, in der Sorbonne und in dem für die Weltausstellung von 1900 errichteten Petit Palais. Georges Clairin (1843 bis 1919) malte weltliche Porträts. Henri le Sidaner (1862 bis 1939) und Henri Fantin-Latour (1836 bis 1904) schufen Tafelbilder, die die Betrachter mit sanfter Melancholie, Erinnerungen an die Gestalten Wagners und geheimnisvollen Visionen bezauberten. Zwischen 1892 und 1897 öffnete ein neuer Salon, um den sich junge Künstler versammelten, die den Ideen des Symbolismus anhingen, sechs Mal seine Tore. Er wurde unterstützt von dem unter dem Namen Sâr Mérodak bekannten Mitglied des kabbalistischen Ordens Rose Croix, Joséphin Péladan (1858 bis 1918). Dieser Orden entstand auf der geheimbündlerischen Grundlage der Rosenkreuzergemeinschaften des 18. Jahrhunderts, von denen er das Interesse an der mittelalterlichen Symbolik, der Alchimie und der Esoterik übernahm. Aber Künstler, für die der Symbolismus etwas tiefer Gehendes darstellte als lediglich ein literarisches Sujet, und die sich dem Ausdruck seiner Ideen mit Hilfe ihrer künstlerischen Mittel annäherten, wurden bei Sâr Péladan nie ausgestellt.

Gustave Moreau, Toter Poet, von einem Zentaur getragen, um 1890. Aquarell, 33,5 x 24,5 cm. Musée Gustave Moreau, Paris.

Gustave Moreau, Die Einhörner, um 1888. Öl auf Leinwand, 115 x 90 cm. Musée Gustave Moreau, Paris.

Gustave Moreau, Orpheus, 1865. Öl auf Holz, 154 x 99,5 cm. Musée d’Orsay, Paris.

Odilon Redon, Paul Gauguin, 1903-1905. Öl auf Leinwand, 66 x 54,5 cm. Musée d’Orsay, Paris.

Pierre Puvis de Chavannes (1824 bis 1898), der Schöpfer monumentaler Gemälde, konnte mit Hilfe einer Vereinheitlichung der Formen, eines farbigen Kolorits und seltsam unbeweglicher Frauenfiguren ein Gefühl des Geheimnisvollen und einer Traumwelt schaffen. Die mythische Frau, makellos schön und irreal – eine der typischsten Gestalten in der Malerei des Symbolismus – erscheint auch in den Gemälden Gustave Moreaus, für den die Kraft der Malerei in der Farbe lag. Seine Feen, Einhörner und antiken Gestalten entstehen im Strudel der Farben und in hellen Tönen – genau das macht sie verheißungsvoll und rätselhaft. Der Cabanel-Schüler Eugène Carrière (1849 bis 1906) dagegen führt uns mit dem tonalen Stil seiner Malerei in den Bereich düsterer Visionen. Für ihn gibt es keine Farbe, er arbeitet mit feinen Tonübergängen, die seine Figuren in die irreale, nebulöse Welt der Träume tauchen. Und schließlich Odilon Redon (1840 bis 1916): Er war Ende des 19. Jahrhunderts der einzige Maler, der nicht einfach in Übereinstimmung mit dem Geist der Zeit arbeitete, sondern ein wahrhafter Visionär war. Obwohl er bei Jean-Léon Gérôme (1824 bis 1904), einem der anerkanntesten und weltmännischsten Maler, gelernt hatte, stand er sehr viel stärker unter dem Einfluss der Lektionen des Botanikers Armand Clavaud (1828 bis 1890) und des Malers Rodolphe Bresdin (1825 bis 1885), der in der Radierung seine eigene Welt der Halluzinationen schuf. Die merkwürdigen, manchmal wundersamen oder monströsen mit Tieren und Pflanzen verbundenen Gestalten der Zeichnungen Redons sind noch am ehesten mit den Visionen eines Hieronymus Bosch (um 1450 bis 1516) vergleichbar. Die Farbe zerfließt in seiner Malerei manchmal in sanften, nebelhaften Übergängen von einem Bereich des Spektrums in einen anderen, manchmal erschreckt er geradezu mit seltsamen Kontrasten in schlichten Feldblumensträußen. Der Symbolismus Redons war spontan und direkt, sein Werk beeindruckte vor allem die jungen Zeitgenossen. Paul Gauguin erinnerte sich in seinen Briefen von den Inseln des Stillen Ozeans an Redon, und Maurice Denis (1870 bis 1943) stellte ihn 1900 in seinem Bild Hommage à Cézanne als Lehrer inmitten der Gruppe seiner Nabis-Freunde dar.

Der symbolistische Dichter und Kritiker Albert Aurier (1865 bis 1892) versuchte in seinem im März 1891 im Mercure de France veröffentlichten Artikel Paul Gauguin: Der Symbolismus in der Malerei, die grundlegenden Gesetze der Kunst des Symbolismus zu formulieren. Er zählte fünf sowohl für die Literatur als auch für die Malerei charakteristische Elemente auf. Drei von ihnen – Ideenreichtum, Symbolhaftigkeit und Subjektivität – sind die Grundsätze der Weltanschauung des Symbolismus. Die beiden anderen – Synthetik (sie ist in Form der Vereinheitlichung vorhanden) und Dekorativität – beziehen sich unmittelbar auf die Art des Ausdrucks, hinsichtlich der Malerei bedeutet das: auf die Art der Sprache der Darstellung. Aurier sagte, dass der Künstler des Symbolismus die Gestalt der Zeichen vereinfachen müsse. Jeder seiner Künstler-Zeitgenossen interpretierte diese Gesetze kraft der von den Symbolisten ausgerufenen Subjektivität auf seine eigene Weise, und doch setzte jeder sie auf die eine oder andere Art in seinem Werk um. Der Symbolismus war der Nährboden, auf dem die so unterschiedliche und widersprüchliche Kunst der Epoche des Postimpressionismus gedieh.

Paul Cézanne, Selbstbildnis mit Mütze, 1872. Öl auf Leinwand, 53 x 39,7 cm. Eremitage, St. Petersburg.